Reaktionen auf Nemzow-Mord beunruhigen Putin
Der Mord an Boris Nemzow, in den 90er Jahren einer der jüngsten Spitzen-Politiker in der Geschichte Russlands, hat nicht nur seine Gesinnungsgenossen der liberalen Opposition Russlands erschüttert. An dem Trauermarsch am vergangenen Sonntag nahmen auch viele Menschen teil, die sonst Demos und oppositionelle Kundgebungen meiden. Sie brachten ihre Betroffenheit zum Ausdruck und ihre Kritik, dass es soweit kommen konnte.
Putin erklärt Fall zur Chefsache
Die zuständige russische Ermittlungsbehörde wird mit Sicherheit alles tun, um die Mörder ausfindig zu machen. Putin hat den Fall zur Chefsache erklärt und selbst die Aufsicht über die Ermittlungen übernommen. Das hatte er bereits beim Fall Politkowskaja gemacht, der bis heute nicht vollständig aufgeklärt ist. Insbesondere die Hintermänner wurden nicht ermittelt. Nichtsdestotrotz zeigt Putins Schachzug, dass seine Reputation auf dem Spiel steht und die des ganzen Systems.
Insofern wird sich die Polizei ernsthaft bemühen, aber es definitiv nicht leicht haben. Neben den üblichen Schwierigkeiten, einen Mordfall aufzuklären, muss sie auch noch gegen das immense Misstrauen der Öffentlichkeit ankämpfen. Selbst wenn die Ermittler ihren Job perfekt erledigen und schlagkräftige Beweise liefern, werden nur wenige Menschen in Russland und im Ausland ihnen Glauben schenken. Doch die Skepsis ist begründet.
Das Hauptproblem besteht darin, dass in Russland schon längst zwei Welten parallel existieren: „die da oben“ und das Volk. Die Mehrheitsbevölkerung kann die Entscheidungshoheit der Beamten- und Politikerklasse tolerieren und ihnen einen Blanko-Scheck fürs Regieren ausstellen. Sie kann auch verschiedene Schritte des Kremls unterstützen wie die aggressive Ukraine-Politik, aber das mindert keineswegs die Skepsis gegenüber dieser Klasse.
Wer hat Nemzow getötet?
Zurzeit geistern verschiedene Vermutungen durch das Netz und die Presselandschaft, die von schlauen Analysen bis zu verschwörungstheoretischem Gefasel reichen. Ausgewogene Kommentare lassen sich klar zusammenzufassen: Das extrem stickige geistige Klima im Land trägt Mitschuld. Die russische Elite spielt unbesonnen mit dem Gespenst des Nationalismus. Die Hurra-Patrioten lehnen jede alternative Meinung ab und verstehen schon leiseste Kritik als Hochverrat. Der Mensch wird in ein Schwarz-Weiß-Schema gepresst: für oder gegen die Ukraine, die USA, den Westen etc.
Zahllose Beiträge der linientreuen Medien und öffentliche Auftritte von Politikern und Meinungsführern schüren Ängste und Unsicherheit. Sie vermitteln das Gefühl, dass die Andersdenkenden Parias sind, Unberührbare. Doch wer als geistiger Brandstifter sein Unwesen treibt, müsste auch die Verantwortung dafür übernehmen. Es gibt nur niemanden, der das durchsetzen kann.
Opposition machtlos und zerstritten
Die außerparlamentarische Opposition Russlands ist machtpolitisch ein zahnloser Tiger. Sie bleibt auch nach der Lockerung des Parteiengesetzes 2012 höchst zerstritten. Sie ist ein Sammelbecken für verschiedene Strömungen wie Liberale, Konservative, Anarchisten, Ultralinke und Nationalisten. Jede hervorstechende Figur der Opposition trägt in ihrem politischen Handeln bestimmte Züge, wodurch sie jeweils für einen beachtlichen Teil der Putin-kritischen Bürger unwählbar wird.
Zum Beispiel äußerte sich der Anwalt und Blogger Alexej Nawalny mehrfach nationalistisch und kann nur mit einer begrenzten Unterstützung aus dem demokratischen Lager rechnen. Michail Kasjanow stößt als ehemaliger Finanzminister und Ministerpräsident unter Putin sowie Anhänger des Neoliberalismus bei den linksgerichteten Wählern auf Ablehnung. Ihr einziges gemeinsames Identifikationsmerkmal ist der Protest gegen Putin, und der reicht bisher nicht aus, sie zu einen.
Widerstand gegen den Kreml diesmal größer
Das Protestpotenzial in der Zivilgesellschaft ist zwar deutlich höher, krankt aber an der geringen politischen Repräsentanz. Aktuelles Beispiel dafür ist die völkerrechtswidrige Annexion der Krim. Der Umgang damit galt als Prüfstein für die Opposition. Die Annexion wurde von der großen Mehrheit der russischen Bevölkerung euphorisch begrüßt, aber nur wenige Kreml-Gegner wie Nemzow haben das Vorgehen Moskaus öffentlich kritisiert. Andere Politiker haben aus Pragmatismus geschwiegen oder sich sogar mit dem Krim-Anschluss angefreundet. Einziger Lichtblick: Dieses Reaktionsmuster scheint nach dem Mord an Boris Nemzow nicht einzurasten, der Widerstand ist diesmal größer.