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Provokation um jeden Preis

Ein Jahr ist vergangenen, seitdem rechte Parteien bei der Wahl zum EU-Parlament massiv Stimmgewinne verzeichnen konnten. Ihre Abgeordneten stellen mittlerweile ein Fünftel aller Parlamentarier. Nach und nach schält sich eine Strategie ihrer parlamentarischen Arbeit heraus.
von Robert Kiesel · 3. Juni 2015
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Udo Voigt ist zwar noch relativ neu in den Reihen der Abgeordneten des EU-Parlaments in Brüssel, die kalkulierte Provokation beherrscht der Vertreter der rechtsextremen NPD aber sicher. Einen „weltweit renommierten Historiker“ hatte Voigt zuletzt für eine Pressekonferenz im Parlamentsgebäude angekündigt. Die Veranstaltung sollte den Titel „Versöhnung durch Wahrheit – 70 Jahre Kriegsende in Europa“ tragen. Doch daraus wurde nichts. Weil sich hinter dem vermeintlichen Historiker mit David Irving einer der bekanntesten Geschichtsrevisionisten und Holocaustleugner dieser Tage verbarg, unterband EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) dessen Auftritt. Die gesamte Veranstaltung fiel ins Wasser.

Der in der Vergangenheit selbst wegen Volksverhetzung verurteilte Voigt beklagte daraufhin umgehend ein „besonders fragwürdiges Demokratieverständnis“ der Brüsseler Verwaltung. In Online-Foren und sozialen Netzwerken nahm die Hetze rasch Fahrt auf. Das Zeichen in die Heimat war gesendet und fiel dort ganz offenbar auf fruchtbaren Boden.
 
Gäste der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) konnten sich nun in Berlin davon überzeugen, dass es sich bei der Causa Voigt-Irving keineswegs um einen Einzelfall handelt. Vielmehr lassen sich ein Jahr nach dem erdrutschartigen Erfolg rechter Parteien bei der EU-Wahl im Mai 2014 erste Handlungsmuster ihrer Vertreter analysieren. Dies zu tun war Anlass der Veranstaltung „Europas radikale Rechte ein Jahr nach der Wahl – eine Zwischenbilanz“. Organisiert hatten sie die FES und das Kompetenzzentrum Rechtsextremismus der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Strategie eines „kalkulierten Tabubruchs“

„Die gehen klar auf den Effekt. Deshalb gehen sie auch ins Plenum und nicht in die Ausschüsse“, erklärte Markus Engels, Presseattaché des EU-Parlaments in Berlin. Wenn die Vorsitzende des Front National FN), Marine Le Pen, damit drohe, die EU zu „zerstören“, dann sei das Teil der Strategie eines „kalkulierten Tabubruchs“. Dieser bemächtigten sich viele ihrer Mitstreiter. Maximale Öffentlichkeit durch minimalen Aufwand, so Engels' Analyse des parlamentarischen Verhaltens der 156 EU-Abgeordneten des rechtspopulistischen Lagers im vergangenen Jahr.
 
Knut Fleckenstein (SPD), Mitglied im Ausschuss für Verkehr und Fremdenverkehr und Teil der Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialisten und Demokraten, bestätigte Engels' Wahrnehmung:. „Die Leute vom FN oder der AfD finden in der regulären Arbeit in meinem Ausschuss quasi nicht statt. Die denken darüber nach, wie sie zu Hause punkten können. Die Ausschussarbeit interessiert da aber keine Sau.“

Gemeinsame Initiativen sind eine Ausnahme

Bettina Scharkus, Brüssel-Korrespondentin der ARD und aufmerksame Beobachterin des parlamentarischen Geschehens in der belgischen Hauptstadt, erklärte: „Es ist die gemeinsame Rhetorik, die verbale Arbeit im Plenum. Damit werden Debatten verdreht.“ Das funktioniere auch ganz ohne Fraktion. Ein öffentlichkeitswirksamer Kommentar sei für die Rechtspopulisten offenbar mehr Wert als die inhaltliche Arbeit in den Ausschüssen. Gemeinsame Initiativen, wie etwa der Misstrauensantrag gegen den Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker im November 2014, blieben dagegen die große Ausnahme.
 
Engels, Fleckenstein und Scharkus räumten ein, dass Vertreter der Rechtspopulisten auch ohne Fraktionsstatus durchaus Wirkung erzielten. „Auf die Dauer betrachtet haben wir dadurch eine völlig veränderte Kultur“, erklärte Markus Engels. Insbesondere das sogenannte EU-Bashing, also die Kritik an der Europäischen Union aus Prinzip und ohne sachliche Grundlage, habe in den vergangenen Jahren stark zugenommen. „Die Massivität, mit der die EU mittlerweile auch im Mainstream kritisiert wird, überrascht mich“, so Engels. „Das macht mir große Sorge“.
 
Udo Voigt und andere werden alles daran setzen, die EU-Feindlichkeit ihrer Anhänger weiter zu verschärfen. Provokationen werden dabei eher noch zunehmen. David Irving trat im damals Übrigen dennoch auf, in einem kleinen Raum am Rande von Brüssel. Ganz ohne große Öffentlichkeit und völlig frei von jeder Empörung.

Autor*in
Robert Kiesel

war bis März 2018 Redakteur des vorwärts.

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