Proteste gegen Erdoğan: So stark ist die Opposition in der Türkei
„So viele Menschen habe ich noch nie bei einer Kundgebung gesehen – und ich habe in meinem Leben schon an vielen teilgenommen“, zeigt sich der 45-jährige Istanbuler Computerprogrammierer Erdem Tuc begeistert. Die Veranstalter, die größte türkische Oppositionspartei CHP, sprechen von 1,5 bis 2 Millionen Teilnehmern, der Gouverneur von Istanbul erklärte, es seien nur 175.000 gewesen.
„Eine Atmosphäre wie bei Gezi“
Wer die Luftaufnahmen der Kundgebung betrachtet, der begreift, dass es sich um eine gigantische Veranstaltung handelte. Laut Programmierer Tuc mussten viele Menschen sogar draußen bleiben, weil sie nicht alle auf das Gelände im Istanbuler Stadtteil Maltepe passten.
Tucs 62-jährige Tante sei sogar aus dem 800 km entfernten Mersin angereist, um dabei zu sein. Dafür habe sie 12 Stunden Reiseweg in einem extra bereitgestellten Bus in Kauf genommen. Es habe sich gelohnt, findet Tuc: „Die Stimmung war großartig, eine Atmosphäre ähnlich wie bei Gezi.“
Die grössten Proteste seit dem Jahr 2003
Diesen Vergleich hört man häufig in diesen Tagen. Nicht ohne Grund. Seit den landesweiten Gezi-Protesten 2013 hatte es keine so große regierungskritische Demonstration mehr gegeben. Sowohl Gezi als auch die Kundgebung am Sonntag entstanden eher spontan, weil ein Ereignis die Wut der Regierungskritiker zum Überlaufen gebracht hatte. 2013 protestierte man gegen die Abholzung der Bäume im Istanbuler Gezi-Park und damit symbolisch gegen die immer autoritärere und islamisch-konservativere Politik der Erdoğan-Regierung.
Bei der Kundgebung am 9. Juli 2017 fordern die Demonstranten Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit – an beidem mangelt es massiv, seit vor einem Jahr nach dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli 2016 der Ausnahmezustand ausgerufen wurde. Über 100.000 Staatsbedienstete verloren ihren Job, über 50.000 Menschen sitzen in Haft – darunter über 150 Journalisten und die Führungsriege der prokurdischen Partei HDP. An eine Unabhängigkeit der Justiz glaubt kaum noch einer im Land.
CHP-Chef Kemal Kılıçdaroğlu platzte der Kragen
Als im Juni der CHP-Parlamentarier Enis Berberoğlu zu 25 Jahren Haft verurteilt wurde, weil er einer oppositionellen Zeitung Bildmaterial über geheime Waffenlieferungen der Regierung nach Syrien zugespielt hatte, platze dem Chef der CHP Kemal Kılıçdaroğlu der Kragen. Er kündigte an, von Ankara nach Istanbul zu dem Gefängnis zu laufen, in dem Berberoğlu seine Haft absitzt. Und er tat es – 23 Tage lief er durchschnittlich 20 Kilometer pro Tag, eine beachtliche Leistung für einen 68-Jährigen. Mit der Zeit begleiteten ihn zehntausende Menschen.
Die Abschlusskundgebung am Sonntag markierte den Höhepunkt dieses Laufes. Und Kılıçdaroğlu, der bisher als sanft, visionslos und zaudernd galt und hinter dem taktisch sowie rhetorisch meisterhaften Erdoğan stets verblasste, scheint nun seine Rolle gefunden zu haben. Bei seinem Amtsantritt 2010 pries man ihn als „türkischen Gandhi“ – nun drängt sich der Vergleich zu Gandhis Salzmarsch von 1930 geradezu auf.
Ankara ließ die Opposition gewähren
Kılıçdaroğlu hielt auf seinem Weg vielleicht keine weltbewegenden Reden, doch er zeigte sich beharrlich, bescheiden und volksnah. Das imponiert vielen Türken, die die CHP bisher als zu elitär und volksfremd verurteilten. Und Kılıçdaroğlu friedliche Forderung nach Gerechtigkeit – wohlgemerkt nicht nach dem Rücktritt der Regierung - vereinte breite Schichten der Bevölkerung hinter sich.
Das hat wohl auch die AKP-Regierung begriffen. Zwar versuchte sie seinen Lauf ins Lächerliche zu ziehen - der Premier Binali Yildirim schlug Kılıçdaroğlu vor, doch lieber den Schnellzug zu nehmen, und Präsident Erdoğan schimpfte in gewohnter Manier, der CHP-Chef diene damit nur Putschisten und Terroristen. Doch sie ließen ihn gewähren. „Dass Erdoğan den Marsch zunächst mit dem Putschversuch 2016 verglich, fand nicht viel Echo in der Gesellschaft“, glaubt der Chefredakteur der Tageszeitung Hürriyet Daily News, Murat Yetkin, „und die AKP realisierte durch Umfragen, dass es Beschwerden über das Justizsystem auch von ihren eigenen Wählerkreisen gibt“.
Diesmal schützten Polizisten die Demonstration
So wurde die Veranstaltung vom Sonntag nicht verboten oder mit Polizeigewalt niedergeschlagen wie viele andere Demonstrationen in den letzten Monaten. Im Gegenteil, sie wurde diesmal von 15.000 Polizisten geschützt. Für viele Türken, die aus Angst vor Polizeigewalt oder Terrorattentaten in den letzten Jahren nicht mehr gewagt hatten zu demonstrieren gewiss ein Grund, sich dieses Mal zu trauen.
Vermutlich wollte die Regierung mit ihre Haltung beweisen, dass es sehr wohl Rechtsstaatlichkeit im Lande gebe, um damit der Veranstaltung den Wind aus den Segeln zu nehmen. Möglich auch, dass Erdoğan weitere Kritik kurz vor dem ersten Jahrestag des gescheiterten Putschversuches, den er als Triumph des Volkes und der Demokratie groß zu zelebrieren plant, vermeiden wollte.
„Das Volk wird niemals aufgeben“
Ähnlich verhielten sich die türkischen Medien, die mittlerweile zum großen Teil auf Regierungslinie sind. Lange versuchten sie, den Marsch zu ignorieren und zu diffamieren. Doch am Sonntag übertrugen gleich mehrere große Fernsehsender das Ereignis live, am Montag war es das Aufmacherthema fast aller Tageszeitungen. Für die Bevölkerung eine wichtige Chance, sich selbst ein Bild zu machen. Und für Regierungskritiker psychologisch ein großer Auftrieb. „Das Volk wird niemals aufgeben“, titelte etwa die linke Tageszeitung Birgün.
CHP-Chef Kılıçdaroğlu verkündete am Sonntag: „Das war nicht das Ende, sondern ein neuer Anfang.“ Nun muss er beweisen, ob er dieses Versprechen einlösen kann. Denn einen politischen Kurswechsel braucht auch die CHP dringend. Ihre Strukturen gelten als verkrustet, ihre alte Riege als nationalistisch. In den letzten Jahren bot sie kaum politische Visionen und Alternativen zur AKP-Regierung.
Werden die Proteste das Land verändern?
Kılıçdaroğlus Marsch könnte nun einen Anstoß zu Reformen bieten, die viele türkische Wähler dringend wünschen. Teilnehmer Tuc hofft, dass die CHP die Chance nutzt, eine tatsächlich linke, sozialdemokratische Partei zu werden. Und er ist sicher, dass der Protest das Land verändern wird: „Menschen unterschiedlichster Art kamen hier zusammen - diese Energie wird weitergetragen werden.“
arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.