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Proteste in Belarus: „Die Erfolgsaussichten steigen mit jedem Tag“

Seit den Präsidentschaftswahlen am vergangenen Sonntag gibt es täglich Massenproteste in Belarus. Deren Erfolgsaussichten steigen täglich, meint Christopher Forst von der Friedrich-Ebert-Stiftung
von Nikolaos Gavalakis · 14. August 2020
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Seit den Wahlen in Belarus am vergangenen Sonntag und dem von der Wahlkommission bekanntgegebenen Ergebnis von 80,2 Prozent für Präsident Lukaschenko gibt es täglich Massenproteste. Der Staatsapparat reagiert mit äußerster Brutalität. Zwei der drei Oppositionsführerinnen, darunter die Spitzenkandidatin Tichanowskaja, haben – höchstwahrscheinlich unter Druck – das Land verlassen. Wie ist die aktuelle Situation?

In den ersten vier Tagen nach Verkündung des Wahlergebnisses am Sonntag sind insgesamt fast 7 000 Menschen verhaftet worden. Die Antwort der Sicherheitskräfte auf die Proteste war in der Tat brutal. Es gab mindestens zwei bestätige Todesopfer und hunderte Verletzte. Vielerorts wurden Blendgranaten und Gummigeschosse eingesetzt. Teilweise nahm die Polizeigewalt willkürliche Züge an. So wurde etwa in Richtung von Balkonen in Wohngebieten geschossen, Fahrer wurden wahllos aus ihren Autos gezerrt und verprügelt. Es gab allerdings auch auf Seiten der Demonstranten nicht nur friedliche Protestaktionen: Auf einigen Plätzen wurden Barrikaden errichtet, es wurde mit Feuerwerkskörpern geschossen und auch einzelne Molotow-Cocktails wurden gezündet. Am Donnerstagabend konnte überraschenderweise erstmals an vielen Orten weitgehend friedlich demonstriert werden. Der Innenminister entschuldigte sich öffentlich dafür, dass auch friedliche Bürger in den letzten Tagen zu Schaden gekommen seien. In der Nacht zu Freitag wurden massenhaft Inhaftierte freigelassen. Scheinbar lenkt das Regime nach einem landesweiten Generalstreik, an dem sich in beeindruckender Weise auch viele Arbeiter in Staatsbetrieben beteiligt haben, gestern nun ein Stück weit ein und verfolgt eine andere Taktik im Umgang mit den Demonstrationen. Auch heute soll wieder gestreikt werden.

Wie sind die Proteste organisiert und wie hoch stehen deren Erfolgsaussichten?

Die Proteste sind höchst dezentral organisiert. Wenn man dennoch von Schlüsselfiguren sprechen möchte, dann lassen sich in erster Linie die Administratoren von Telegramkanälen nennen. Hier ist zum Beispiel Stepan Putilo zu erwähnen, ein in Warschau lebender Blogger, der den Kanal „Nexta“ betreibt. Die Dezentralisierung schwächt einerseits den Organisationsgrad und sorgt dafür, dass vieles wenig geplant und zielstrebig erscheint. Sie macht es aber auch sehr schwer, die Situation völlig unter Kontrolle zu bekommen, und verdeutlicht, dass nicht nur in den großen Städten Unmut herrscht. In der Vergangenheit waren Demonstrationen sehr auf Minsk fokussiert, auch da Wähler auf dem Land mehrheitlich als Unterstützer Lukaschenkos galten. Diese Zeiten sind vorbei. Die Erfolgsaussichten steigen mit jedem Tag, den die Demonstrationen weitergehen. Ein schnelles Nachgeben Lukaschenkos scheint dennoch weiter unwahrscheinlich. Allerdings deuten vermehrt auftretende einzelne öffentliche Solidaritätsbekundungen aus den Sicherheitsdiensten darauf hin, dass die Reihen des Regimes nicht so geschlossen sein könnten, wie es uns derzeit noch erscheint.

Auf den ersten Blick könnte man Parallelen zum Maidan 2014 im Nachbarland Ukraine ziehen. Worin liegen jedoch die Hauptunterschiede?

Es geht in Belarus nicht um eine Richtungsentscheidung zwischen der EU und Russland. Die Demonstranten haben schlicht genug von den Repressionen unter Lukaschenko und fühlen sich um ihre Stimme betrogen. Außerdem war auf dem Maidan alles sehr strukturiert und durchgeplant. Die Basis der Protestbereiten ist in Belarus anscheinend sogar noch breiter gefächert. An der Spitze der Bewegung stehen keine Politiker, sie dienen im Gegensatz zum Maidan maximal als Symbolfiguren. Es werden derzeit auch keine Programme für die Zeit nach Lukaschenko geschrieben. Sollte der Protest Erfolg haben, birgt dies übrigens durchaus auch große Risiken. Es droht Planlosigkeit.

Die Reaktionen aus dem Westen sind bis dato eher verhalten. Warum ist das so und welche Optionen hat die EU überhaupt? Sind Sanktionen eine Möglichkeit?

Sanktionen wären ja nichts Neues. Erst 2016 wurden Sanktionen gegen 170 Funktionäre und Unternehmen, denen man direkte Beteiligung an Menschenrechtsverletzungen und Wahlfälschungen vorwirft, aufgehoben. Es gibt aber auch aktuell noch Sanktionen gegen vier Personen, die für vier politisch motivierte Morde um die Jahrtausendwende verantwortlich sein sollen. Nachhaltig geholfen hat all dies wenig. Die EU scheint ein wenig ratlos. Zudem ist sie, wie so oft, gespalten. Wenn es neue Sanktionen geben sollte, dann nur in wohldosierter Form – und ihre Aufhebung müsste an messbare Bedingungen wie die Freilassung politischer Gefangener geknüpft sein. Kurzfristig muss ohnehin ein anderer Lösungsansatz her. Auch die Opposition fordert deshalb in erster Linie, dass gemeinsam Wege gefunden werden, um einen Dialog mit dem Regime zu ermöglichen, zum Beispiel über ein Ende der Polizeigewalt und die Freilassung politisch Inhaftierter. Es gibt hierzu bereits Vorstöße, etwa aus Litauen, das auch die Bildung eines Nationalrats unter Einbindung der Zivilgesellschaft gefordert hat. Kurzfristig ist zudem die Gewährleistung von Asyl für politisch Verfolgte eine Handlungsoption. Und, so simpel es klingt: Aufmerksamkeit für die Geschehnisse vor Ort ist momentan das Wichtigste. In der Vergangenheit hat es daran oft gefehlt.

Belarus hat versucht, sich in den letzten Jahren von Moskau ein wenig zu distanzieren, ist aber weiterhin stark vom großen Bruder im Osten abhängig.  Wie ist Russlands Rolle einzuschätzen?

Russland ist und bleibt der wichtigste wirtschaftliche und strategische Partner von Belarus. Allerdings gestaltet sich diese Partnerschaft zunehmend kompliziert. Das hat in erster Linie damit zu tun, dass Russland für Energielieferungen unter Weltmarktpreis, auf die die belarusische Wirtschaft dringend angewiesen ist, immer stärkere politische Konzessionen fordert. Lukaschenko spielt schon seit vielen Jahren eine Art Vabanquespiel und hält Russland so weit auf Distanz wie möglich, aber so nah wie nötig. Dieses Spiel wird nun immer schwieriger, aber es dürfte weitergehen. Im Wahlkampf war Lukaschenko zwar deutlich auf Distanz zu Russland gegangen und hatte gar der Opposition Finanzierung aus Moskau und Nähe zu russischen Söldnertruppen vorgeworfen, zumindest in Teilen dürfte dies aber Show gewesen sein. Bei Lukaschenko weiß Putin am ehesten, woran er ist. Deshalb gehörte der russische Präsident auch zu den ersten Gratulanten. Aber auch die Opposition steht nicht für eine grundlegende Abkehr vom Status quo und hätte kurzfristig auch gar keine Möglichkeiten, die wirtschaftliche Abhängigkeit zu beenden. Insofern kann man in Moskau erst einmal abwarten, was passiert. Sollte Lukaschenko ins Wanken geraten und um Hilfe bitten, ist ein militärisches Eingreifen Russlands allerdings tatsächlich nicht ganz auszuschließen.

Erschienen am 14. August im IPG-Journal

Autor*in
Nikolaos Gavalakis

leitet die Redaktion des IPG-Journals. Zuvor war er Leiter des Regionalbüros „Dialog Osteuropa“ der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kiew. Er hat in Mainz und Kalifornien Politikwissenschaft, Jura und Amerikanistik studiert.

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