Proteste in Algerien: „Das Volk hat die Angst überwunden“
Seit Wochen gibt es Massenproteste in Algerien. Was war der Auslöser dafür?
Der Auslöser war, dass Präsident Bouteflika zum fünften Mal kandidieren wollte. Dabei ist er seit 2013 nicht mehr öffentlich in Erscheinung getreten. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Danach hat sich die unerwartete Wucht der Menge entfaltet.
Inzwischen hat Bouteflika angekündigt, nicht erneut als Präsident kandidieren zu wollen. Am Dienstag ist er nach 20 Jahren von seinem Amt zurückgetreten. Ist das ein Erfolg der Proteste?
Es ist ein erster Erfolg, der aber zu umso beharrlicherem Druck von der Straße geführt hat. Inzwischen fordern die Demonstranten einen kompletten Wechsel an der Spitze des Staates. Alle, die das System bisher unterstützt haben, sollen raus.
2011 demonstrierten in vielen Ländern der Region während des sogenannten Arabischen Frühlings hunderttausende Menschen. Warum gab es die Massenproteste in Algerien jetzt erst?
Was die anderen arabischen Länder damals als Arabischen Frühling bezeichnet haben, hatten wir in Algerien schon einige Jahre vorher. Im Oktober 1988 endete das sozialistische Regime. Von den freien Wahlen haben danach vor allem die Islamisten profitiert. Was folgte, war ein zehn Jahre andauernder Bürgerkrieg mit 150.000 Toten. Das war ein nationales Trauma und hat 2011 mögliche Proteste gebremst. Denn es gab immer die Angst vor der Rückkehr zum Bürgerkrieg.
Ist dieses Trauma jetzt besiegt?
Genau so ist es. In seiner ersten Rede, nachdem die Proteste aufgekommen sind, hat der Premierminister direkt wieder auf die Gefahr eines Bürgerkriegs hingewiesen, aber wir haben inzwischen eine Generation, die keine Angst mehr hat. Wir haben eine wunderbare Straße. Freitag für Freitag gehen im ganzen Land 17 Millionen Menschen auf die Straße und protestieren friedlich. Es ist eine Mischung aus Feiern und Protestieren. Das Volk hat die Angst überwunden und seine Stärke entdeckt.
Wie kann ein Dialog zwischen den Protestierenden und der Regierung gelingen?
Das Problem ist, dass die Zivilgesellschaft nicht so stark ausgeprägt ist wie beispielsweise in Tunesien, wo es eine starke gewerkschaftliche Bewegung gibt. Zudem haben sich die Oppositionsparteien in den vergangenen Jahren vollkommen unbrauchbar gemacht. Deswegen müssen sich erst neue Gruppierungen für einen friedlichen Dialog bilden. Auf der anderen Seite hat der Präsident am Sonntag eine neue, technokratische Regierung ernannt, der aus dem bisherigen Kabinett nur noch der Verteidigungsminister angehört. Das war der letzte Schritt zum Abgang von Bouteflika.
Welche Kräfte sollten die EU beziehungsweise Deutschland unterstützen?
Gar keine. Die Europäer sollten sich zurückhalten. Egal, wen sie jetzt unterstützten, es wäre falsch. Das einzige, was sie machen können, ist, Druck auf die Armee auszuüben, damit diese weiterhin keine Gewalt ausübt. Besonders Deutschland kann seinen Einfluss geltend machen. Denn Algerien ist der größte Abnehmer für deutsche Waffen. Für die deutsche Regierung wäre es sicher unangenehm, wenn plötzlich deutsche Panzer rollen. Die Roadmap für einen Wechsel müssen die Algerier aber selbst erstellen.
Was macht Ihnen Hoffnung, dass die Proteste anders als 1988 nicht blutig enden?
Hoffnung macht mir die Friedfertigkeit. Die Proteste sind gut organisiert. Wenn Demonstrationen für die Zeit zwischen 14 und 18 Uhr angekündigt sind, dauern sie auch nur so lange. Hinterher machen die jungen Leute die Straße sauber. Außerdem gibt es eine politisch reife Bevölkerung. Die Proteste werden inzwischen von einer breiten Mittelschicht getragen. Ärzte, Richter und Anwälte gehen Hand in Hand auf die Straße. Auch Millionen Frauen protestieren. Sie singen, tanzen, laufen bei jeder Demo in der ersten Reihe und kämpfen gegen die Herrschaft des alten, männlichen Regimes.
Sind die Proteste insofern auch eine emanzipatorische Bewegung?
Ohja, das sind sie auf jeden Fall. Eine Emanzipation vom Regime und von der Herrschaft des Mannes.
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ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo