„Wir brauchen Dich im Weißen Haus“, sagte Bernie Sanders zu Joe Biden in einem öffentlich zugänglichen Livestream. Beide saßen dabei wegen der Einschränkungen des öffentlichen Lebens zu Hause in Vermont beziehungsweise Delaware. Es war zu merken, dass sie sich mögen. Und dies ist wahrscheinlich auch, was Biden als Person ausmacht: Sehr viele mögen ihn, egal, wo sie politisch stehen. Das unterscheidet ihn von seinem Gegner im Herbst, Donald Trump, den nicht einmal viele seiner Unterstützer und Mitstreiter sympathisch finden. Ganz ohne Tamtam und Fanfaren fand also die Nominierung des Präsidentschaftskandidaten der US-Demokraten statt. Ihr Kandidat ist der 77-jährige, noch vor wenigen Wochen politisch beinahe totgesagte ehemalige Vize-Präsident von Barack Obama. Formal muss zwar noch die Nominierung auf dem Parteitag folgen, der ursprünglich Mitte Juli stattfinden sollte, inzwischen aber auf August verschoben wurde. Politisch ist dieser Parteitag aber nicht mehr nötig, der eigentliche Wahlkampf hat jetzt begonnen.
Bernie Sanders hat also sein politisches Gewicht hinter Joe Biden geworfen. Eine Woche vorher hatte er seine dynamische Kampagne, die die Unterstützung vieler junger Amerikanerinnen und Amerikaner genoss, beendet. Gerade in Zeiten eines nationalen Notstands ist es wichtig, alle Kraft auf die Frage zu konzentrieren, wie die Krise des Landes bewältigt werden kann. Senator Sanders machte den Weg frei für Joe Biden und die Demokratische Partei, sich auf die eigentliche Aufgabe zu konzentrieren: Donald Trump herauszufordern, sich seiner Inkompetenz und Korruption entgegenzustellen und ihn im November zu schlagen.
Vereint gegen Donald Trump
Damit ist alles ganz anders als vor vier Jahren. Sanders blieb 2016 bis zum Juli im Rennen und letztendlich war seine Unterstützung für die Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton auch nur halbherzig. Zumindest verweigerten ihr viele „Sandernistas“ ihre Stimme. Nur vier von fünf Anhängern von Sanders stimmten in der Präsidentschaftswahl für Clinton. Diesmal sprach Sanders davon, dass es unverantwortlich sei, Biden nicht zu unterstützen. Er ist eindeutig zu der Erkenntnis gekommen, dass es besser ist, die politische Auseinandersetzung auf Donald Trump zu konzentrieren und dafür eine Einigung zwischen Moderaten und Progressiven in der Demokratischen Partei zu erreichen.
Für Sanders als Anführer der progressiven Demokraten geht es auch um den Einfluss auf den weiteren politischen Prozess – vor allem auf die programmatische Ausgestaltung von Wahl- und Regierungsprogramm. Insofern ist das Ende seiner Kampagne keine Tragödie, sondern eine Chance, politische Gestaltungsmacht zu gewinnen. Sanders gewährte Biden den Vortritt in der Erwartung, politische Zugeständnisse zu erhalten. Seine Ausstiegsrede machte deutlich, dass er sich als Teil der Führung der Demokratischen Partei sieht und Verantwortung übernehmen will. Und Joe will auch Bernie dabei haben: für den Wahlkampf und für die Regierungsbildung. In kleinen Teams sollen nun gemeinsame Positionen für das Wahlprogramm erarbeitet werden. Es ist ein Zeichen des Zusammenrückens und der Kampfbereitschaft der Demokraten.
Barack Obama betont „gutes Regieren“
Ein wichtiger Joker blieb den Demokraten zusätzlich. Barack Obama hatte sich aus dem Vorwahlkampf herausgehalten. Nun kann er im Wahlkampf zum Zuge kommen. Seine Unterstützung für Joe Biden kam prompt. In einem Video sprach Obama davon, wie bedeutsam gerade in den Zeiten der Corona-Pandemie gutes Regieren sei. Er würdigte Bernie Sanders und seine Politik. Er befürwortete große strukturelle Veränderungen in den USA, womit er Elizabeth Warrens Anliegen aufgriff. Er machte deutlich, dass sich die Rolle der USA in der Welt zum Besseren wandeln müsse. Vor allem aber stärkte Obama Joe Biden den Rücken. Obama forderte zum Kampf auf – mit Anstand und Würde. Tags darauf folgte die Wahlempfehlung der progressiven Senatorin Elizabeth Warren, die Bidens Integrität, Zugänglichkeit und Fähigkeit zur Zusammenarbeit hervorhob – Qualitäten, die niemand mit Trump verbindet. Es wird ein Personen- und Persönlichkeitswahlkampf.
Allen Unkenrufen zum Trotz hat der Ex-Vizepräsident nun gute Chancen, Trump am 3. November zu schlagen. Er ist bekannt und beliebt im Land, gerade in den relevanten Bundesstaaten. Er hat im Vorwahlkampf gezeigt, dass er breite Wählerschichten an die Urne bringen kann. Seine Achillesferse sind die jüngeren Wählerinnen und Wähler, die ihn bisher mehrheitlich nicht favorisierten. Daher ist die Wahlempfehlung durch Bernie Sanders so wichtig. Die Demokraten können es sich 2020 nicht leisten, 20 Prozent der Wählerschaft von Sanders zu verlieren. Die Aussicht, im Falle der Niederlage vier weitere Jahre mit Donald Trump verbringen zu müssen, wird eine zusätzliche Motivation sein. So hat sich denn auch die linke Ikone und Kongressabgeordnete aus Queens, Alexandria Ocasio-Cortez, für Biden ausgesprochen.
Bidens Achillesferse: die Finanzen
Biden hat jetzt die Chance, seine Kampagne zu konsolidieren und die Finanzierung zu sichern – bisher zwei Schwachpunkte des Kandidaten. Er hat die Vorwahlen fast ohne organisatorischen Unterbau bestritten. Der Vorwahlkampf hat sehr lange gedauert und es ist höchste Zeit, dass sich die Demokraten in ihrem politischen Kampf auf Donald Trump konzentrieren. Biden ist zwar Trumps Angstgegner. Aber US-amerikanische Wahlkämpfe verschlingen inzwischen Milliarden US-Dollar, und Trump ist Biden in Finanzierung und Wahlkampforganisation weit voraus.
Für Biden spricht, dass er schon jetzt wie eine solide Alternative zum amtierenden Präsidenten wirkt. Gewinnt er, kann er sofort loslegen. Das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger, welches er dank seiner langen politischen Erfahrung als Senator und als Vizepräsident genießt, könnte gerade in der Corona-Krise und der Rezession wahlentscheidend sein. Biden wird zugetraut, schon vor der Wahl ein beeindruckendes Team für die Regierung zu präsentieren.
Wichtig wird die Vorstellung der Kandidatin für die Vizepräsidentschaft. Biden hat sich festgelegt, dass es eine Frau sein soll. Da er selbst nur begrenzt die Vielfalt der aktuellen US-amerikanischen Gesellschaft repräsentiert, war das eine weise Entscheidung. Wer es sein wird, darüber wird wild spekuliert und es zirkulieren unterschiedliche Listen. Als wahrscheinliche Kandidatinnen gelten die Senatorinnen Elizabeth Warren, Kamala Harris oder Amy Klobuchar. Interessant wäre zudem die afro-amerikanische Hoffnungsträgerin der Demokraten, Stacey Abrams, die 2018 fast die Gouverneurswahl in Georgia gewonnen hätte. Sie kann Menschen bewegen und mobilisieren. Eine andere starke Kandidatin wäre die resolute Gouverneurin aus Michigan, Gretchen Whitmer. Die Bewältigung der Corona-Pandemie erweist sich auch wegen der Inkompetenz des Präsidenten als Stunde der Gouverneure, da diese über die zentralen Maßnahmen zur Eindämmung der Krankheit und Versorgung der Bevölkerung entscheiden.
Wahl als Abstimmung über Krisenmanagement
Andererseits macht gerade die Krisensituation, in der üblicherweise die Stunde der Exekutive schlägt, einen normalen Wahlkampf unmöglich. Es ist für Joe Biden nicht leicht, medial durchzudringen, da er kein Amt hat und nicht öffentlich auftreten kann. Trump inszeniert sich täglich selbst und ist bemüht, die Deutungshoheit über die Krise zu erlangen.
Die Zahlen allerdings sprechen gegen Trump. Es gibt über 600 000 Infizierte und fast 30 000 Tote. In vier Wochen wurden über 22 Millionen Menschen arbeitslos. Konsum und Industrieproduktion sind eingebrochen, die Aktienkurse geben weiter nach. Trump wollte die Wahl als Präsident einer boomenden Wirtschaft gewinnen. Das ist nun unmöglich. Die Präsidentschaftswahl dürfte zur Abstimmung über das Krisenmanagement werden. Selbst für brillante Kommunikatoren wäre es schwierig, die schockierenden Zahlen als gute Ergebnisse zu verkaufen. Trump sucht daher Sündenböcke. Doch es gelingt ihm immer weniger, die Geschichte zu kontrollieren.
Ein führender Mitarbeiter des Weißen Hauses unter Präsident Obama beschreibt das so: „Trump gewinnt gerade keine Stimmen für sich, so wie er sich in dieser Krise aufführt.“ Seine selbstverliebte Art und die mangelnde Empathie für das Leiden anderer im Angesicht dieser schwierigen Lage machen ihn für viele unwählbar, insbesondere für Frauen und unabhängige Wählerinnen und Wähler. Die leichte Zunahme der Zustimmungswerte für Trump in Umfragen sollte nicht überbewertet werden. Die Zufriedenheit mit seiner Amtsführung nimmt schon wieder ab und ist nie über 50 Prozent hinausgegangen. Insofern können die Demokraten die historische Chance nutzen, die Geschicke der USA ab 2021 wieder selbst in die Hand zu nehmen.