Präsidentschaftswahl in Brasilien: Was Lulas Sieg bedeuten würde
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Es ist die wichtigste Wahl seit Jahrzehnten in Brasilien, mit Auswirkungen weit über die Landesgrenzen und auch die Region hinaus. Über 156 Millionen Brasilianer*innen schreiten am 2. Oktober zur Wahlurne, um eine*n Präsident*in, Gouverneur*innen, nationale und bundesstaatliche Abgeordnete sowie Senator*innen zu wählen. Alle Augen sind dabei in erster Linie jedoch auf die Präsidentschaftswahl gerichtet.
Lulas sechste Kandidatur
Der Unterschied der beiden aussichtsreichsten Kandidaten könnte dabei nicht größer sein. Amtsinhaber Jair Bolsonaro hat sich weltweit einen zweifelhaften Ruf erarbeitet: Unter seiner Präsidentschaft sind die Abholzungsraten im Amazonas auf ein Rekordniveau gestiegen. Zudem kennzeichnen sein fatales Missmanagement in der Coronapandemie mit über 680 000 Toten, die Ablehnung einer multilateralen Staatenordnung und nicht zuletzt Angriffe auf demokratische Institutionen seine Regierungszeit.
Der aussichtsreichste Gegenkandidat und derzeit Führende in den Umfragen ist Luiz Inacio Lula da Silva, ehemaliger Staatspräsident und Gewerkschaftsführer – in vielerlei Hinsicht ein Gegenentwurf zu Bolsonaro. Es ist seine sechste Kandidatur, bereits 2018 kandidierte Lula und führte in den Umfragen, wurde aber durch eine Verurteilung wegen Korruptionsvorwürfen vom Wahlkampf ausgeschlossen. Die Urteile gegen Lula wurden 2020 aufgehoben.
Schlechte Zahlen für Bolsonaro
Bolsonaro kam vor vier Jahren in einer aufgeheizten Atmosphäre an die Macht, getragen durch die Unterstützung weiter Teile der Wirtschaftselite, durch einen radikalen Diskurs, der besonders die Sicherheitskräfte umgarnte, durch die evangelikalen Kirchen und ein tiefes Misstrauen gegenüber der Politik, die von Korruptionsskandalen erschüttert worden war. Dabei war Bolsonaro selbst seit drei Jahrzehnten Berufspolitiker. Es gibt breite Teile der Bevölkerung, die seinen radikalen Diskurs teilen.
Die Umfragen sehen jedoch nicht gut aus für Bolsonaro. Er liegt eine Woche vor der Wahl mit 33 Prozent weit hinter Lula (47 Prozent). Dabei hat er in den Wochen vor der Wahl nichts unversucht gelassen, um den Abstand zu Lula zu verringern. Unter anderem wurde die Wirtschaftsnothilfe um 50 Prozent auf 600 Reais (circa 115 Euro) angehoben, LKW- und Taxifahrer*innen bekamen Sonderzahlungen. Tatsächlich haben sich die Wirtschaftsindizes verbessert. Die Inflation ist gesunken, für das Bruttoinlandsprodukt wird nun ein Wachstum von 2,5 Prozent erwartet und die Arbeitslosigkeit ist gesunken.
Der Hunger ist zurück in Brasilien
Allerdings macht der informelle Sektor knapp 40 Prozent aus, der Reallohn ist für die meisten nicht gestiegen und die Hilfszahlungen reichen in vielen Städten nicht einmal für den Warenkorb. Viele Menschen können sich die gestiegenen Lebensmittelpreise nicht mehr leisten. Der Hunger ist mit voller Wucht zurück in Brasilien. 33 Millionen Menschen sind davon betroffen. All das, obwohl Brasilien einer der weltweit größten Lebensmittelproduzenten ist. Zudem sind die Hilfszahlungen nur bis Ende des Jahres garantiert. Und so scheint die Rechnung Bolsonaros nicht aufzugehen, durch Transferleistungen in eine bessere Ausgangsposition zu kommen.
Und auch ansonsten lief die Wahlkampagne nicht gut für den amtierenden Präsidenten. Mehrfach ist er durch Attacken gegen Journalistinnen aufgefallen. Den 200. Unabhängigkeitstag Brasiliens missbrauchte Bolsonaro für Wahlkampfauftritte, der Oberste Gerichtshof verbot hinterher die Nutzung der Bilder im Wahlkampf. Zudem fügte er seiner an peinlichen Auftritten nicht armen Präsidentschaft weitere hinzu: Vor tausenden Anhänger*innen stimmte er einen Chorus auf seine „Männlichkeit“ an („ich kann immer“ – imbrochavel). Hinzu kommen Korruptionsvorwürfe gegen seine Familie. Und auch Bolsonaros Anhänger*innen machen immer wieder negativ auf sich aufmerksam.
Gute Erinnerungen
Hingegen mobilisierte die Zivilgesellschaft und auch Teile des Establishments gegen den aktuellen Präsidenten. Bolsonaro schaffte es so trotz aller Vorteile als amtierender Präsident weder, ein positiveres Image zu kreieren (die Ablehnungsrate oszilliert weiter um die 50 Prozent), noch hat er es geschafft, seinem ärgsten Konkurrenten, Lula, zu schaden. Noch nie hat in der jüngeren demokratischen Geschichte ein amtierender Präsident in Brasilien eine Wiederwahl verloren. Bolsonaro könnte der erste sein.
Doch die Ablehnung von Lula ist ebenfalls hoch. Weit über 30 Prozent geben an, ihn niemals wählen zu wollen. Dennoch repräsentiert er wie kein Zweiter die Zeit eines anderen Brasiliens. Ein Brasilien, das zur sechstgrößten Volkswirtschaft aufstieg, in dem Armut und Hunger reduziert wurden und das zu einer treibenden Kraft auf der internationalen Bühne wurde. Noch wichtiger waren die gesellschaftlichen Veränderungen. Zum ersten Mal wurde ein Arbeiter aus einfachen Verhältnissen Präsident, der Mindestlohn stieg, Armut verringerte sich, die Zivilgesellschaft war durch Beteiligungsformate stärker involviert, die Förderung von Schwarzen und die Bekämpfung von Rassismus wurden deutlich intensiviert. Lula schied 2011 nach zwei Amtszeiten mit einer Zustimmungsrate von knapp 80 Prozent aus dem Amt.
Gelingt ein Sieg im ersten Wahlgang
Nun liegt Bolsonaro je nach Umfrage kurz vor dem ersten Wahlgang knapp 14 Prozentpunkte hinter Lula. Es scheint nun sogar ein Wahlsieg im ersten Wahlgang möglich, die Tendenz der letzten Umfragen deutet in diese Richtung. Lulas Strategie war es, einen Gegenentwurf zu Bolsonaro zu präsentieren, ein friedlicheres, glücklicheres Brasilien, das den Hunger bekämpft und für relativen Wohlstand sorgen kann. All das habe es unter seiner Präsidentschaft bereits gegeben.
Das Umfragehoch liegt auch an Lulas Fähigkeiten, Bündnisse zu schmieden. Einerseits wird er von einem breiten progressiven Spektrum aus zehn Parteien unterstützt. Zudem hat er mit Geraldo Alckmin einen konservativen Vize-Kandidaten an seiner Seite, der bei früheren Präsidentschaftswahlen gegen Lula angetreten ist. Mit Alckmin sendet Lula das Zeichen der Bereitschaft zur konstruktiven Zusammenarbeit Richtung konservativer Parteien, aber auch in Richtung der konservativen Wirtschaftselite. Zuletzt sprach sich der ehemalige Zentralbankchef für Lula aus.
Ein Zeichen an die Konservativen
Lula wird zwar von der Linken in Brasilien unterstützt, aber im Falle eines Wahlsiegs wird die Umsetzung einer progressiven Agenda schwierig werden. Unter anderem ist unter Bolsonaro der opportunistische Parteienblock Centrão so mächtig geworden wie nie. Im zersplitterten Parteiensystem mit 30 Parteien im Parlament, ist der Centrão seit jeher ein wichtiger Faktor in der brasilianischen Politik. Nun ist er in der Regierung in Schlüsselpositionen vertreten, profitiert von Sonderzahlungen, die ohne Transparenz weitergegeben werden, und stellt knapp 200 Abgeordnete im 513 Sitze großen Abgeordnetenhaus. Es ist davon auszugehen, dass Parlamentarier*innen des Centrão auch im neuen Kongress einen großen Teil der Abgeordneten stellen werden. Jede Regierung muss sich also mit diesem Block arrangieren, so dass für Lula im Falle eines Wahlsiegs die Umsetzung einer progressiven Agenda in einem Land mit hoher Ungleichheit und struktureller Gewalt schwierig werden könnte. Alles noch Zukunftsmusik – der einende Hauptfokus der progressiven Kräfte ist derzeit die Verhinderung eines erneuten Wahlsiegs Bolsonaros.
Es steht zu befürchten, dass dieser im Falle einer Niederlage das Amt nicht reibungslos übergeben wird. Sollte Lula gewinnen, gilt es als wahrscheinlich, dass Bolsonaro die Wahl nicht anerkennen wird. Seit Amtsantritt und verstärkt in den letzten Monaten zweifelt er die Zuverlässigkeit der elektronischen Wahlurnen und die Legitimität des Obersten Wahlgerichts an. Auch wenn zwischenzeitlich ruhigere Töne zu vernehmen waren, betonte er bei seiner letzten Auslandsreise, wenn er nicht im ersten Wahlgang gewinne, müsse etwas nicht mit rechten Dingen zugehen. Eine Haltung, die von vielen seiner Anhänger*innen geteilt und verbreitet wird. Allerdings kann Bolsonaro bei einer Nichtanerkennung der Wahl nicht mit breitem Beistand rechnen – insbesondere nicht bei einer deutlichen Niederlage bereits im ersten Wahlgang.
Tumulte wie in den USA befürchtet
Dennoch gibt es Befürchtungen, dass es zu punktuellen Tumulten und Gewalt kommen könnte. Bolsonaristas sorgen mit Fake News und Attacken auf demokratische Institutionen und politische Gegner*innen für eine aggressive Atmosphäre. Bereits die Wahl von 2018 war von massiven Fake-News-Kampagnen geprägt. Der Oberste Gerichtshof geht nun stärker dagegen vor, doch Anhänger Bolsonaros sind überzeugt, dass die Umfragen gefälscht sind und Bolsonaro im ersten Wahlgang gewinnen wird. Anders ausgedrückt: Wenn ihr Präsident verliert, könne es sich nur um Wahlbetrug handeln.
Anlass zur Sorge bereiten auch die im Umlauf befindlichen Schusswaffen. Bolsonaro hat die Waffengesetze gelockert und den Zugang zu Munition erleichtert. Die Anzahl von Schusswaffen in Privatbesitz hat sich verdoppelt und gerade der Verkauf von Handfeuerwaffen ist deutlich gestiegen. In den letzten Wochen wurde unter anderem ein Lula-Anhänger von einem Bolsonarista auf einer Geburtstagsfeier erschossen, ein weiterer wurde von seinem Arbeitskollegen ermordet, der mindestens 15 Mal auf ihn einstach. Dies sind nicht nur tragische Einzelfälle, sie zeigen die aufgeheizte Stimmung im Land. Des Weiteren werden Kandidat*innen mit Waffen bedroht, Anhänger*innen angegriffen sowie Journalist*innen beschimpft und bedroht. So verwundert es nicht, dass über 67,5 Prozent angeben, sich vor Gewalt aufgrund ihrer politischen Ansichten zu fürchten.
Bolsonaro auf Trumps Spuren
Mit der Anzweiflung des Wahlprozesses und angeblich parteiischen Wahlbehörden und Gerichten folgt Bolsonaro dem Playbook von Donald Trump. Sollte Lula die Wahl erst in einem zweiten Wahlgang knapp gewinnen, ist die Gefahr einer Anzweiflung der Wahl deutlich größer, als bei einer Niederlage Bolsonaros am 2. Oktober, wenn mit den Abgeordneten, Gouverneuren und Senatoren eben auch Bolosonaros Unterstützer ins Amt gewählt werden. Denn diese dürften kein Interesse daran haben, dass die Wahl für ungültig erklärt wird.
Gleich wie die Wahl ausgeht, der Bolsonarismo und damit die Anti-System-Politik werden nicht einfach verschwinden. Bolsonaro hat trotz aller Skandale und einer hohen Ablehnung, weiterhin einen hohen Zuspruch bei circa 30 Prozent der Bevölkerung. Sein Anti-System-Narrativ wird auch nach der Wahl weiter gepflegt werden und international Verbündete finden. Die extreme Rechte ist zu einer starken Bewegung geworden, wobei derzeit auch ein konservatives Gegengewicht fehlt.
Im Präsidentschaftswahlkampf blieben alle Kandidat*innen des sogenannten „Dritten Weges“ chancenlos. Derzeit gibt es drei größere Sphären in der brasilianischen Politik: Eine sozialdemokratische Linke unter der Führung von Lula und der Arbeiterpartei PT, eine radikale Rechte unter der Führung Bolsonaros und ein derzeit noch diffuses konservatives Lager. Wie sich diese Konstellation in Brasilien weiter entwickeln wird, muss sich zeigen. Klar ist aber, dass die Wahlen 2022 entscheidende Bedeutung für die demokratische Entwicklung und die Rolle des Landes in der internationalen Zusammenarbeit haben werden.
Am 27. September erschienen im IPG-Journal.
leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Brasilien. Zuvor war er als Referent im Lateinamerika-Referat der Stiftung tätig.