Politische Lage in Brasilien: Keine Ruhe nach dem Sturm
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Eine Woche nach der feierlichen Amtsübernahme durch Luiz Inácio Lula da Silva, erlebt Brasilien den schwersten Angriff auf die Demokratie seit dem Ende der Militärdiktatur. Zurück bleibt eine Spur der Verwüstung, nachdem am 8. Januar tausende „Bolsonaristas" in der Hauptstadt Brasilia den ikonischen Platz der drei Gewalten gestürmt haben. Sie drangen in den Kongress, in den Amtssitz des Präsidenten, den Palacio do Planalto sowie in das Oberste Gericht ein und ließen ihrer Zerstörungswut freien Lauf. Es war ein geplanter Angriff auf das Herz der brasilianischen Demokratie, angefeuert durch die Behauptung des Wahlbetrugs. Der Sturm der Bolsonaro-Anhänger*innen war kein spontaner Ausdruck des Protests, sondern ein Umsturzversuch, lange angekündigt und gestützt durch Teile der Polizei, der Politik sowie Unternehmer*innen, die dem Ex-Präsidenten nahestehen.
Geringe Gegenwehr trotz Warnungen
Auffällig war die geringe Gegenwehr der Polizei. Dabei hatte der neue Justizminister Flavio Dino angesichts der angespannten Situation noch den verstärkten Einsatz von Sicherheitskräften autorisiert. Die Gefahr war absehbar, denn der brasilianische Geheimdienst ABIN hatte im Vorfeld bereits mehrere Institutionen ausdrücklich gewarnt. Der Angriff wurde über vielfach geteilte Chatnachrichten geplant, die Bolsonaristas in zahlreichen Bussen nach Brasilia gebracht. Dennoch wurde die Sicherheit nicht verstärkt. Im Gegenteil, die Polizei eskortierte gar die „Demonstranten“ zum Platz der drei Gewalten und es gibt Bilder, die sie in entspannter Unterhaltung mit den Randalierer*innen zeigen.
Der Beauftragte für die Sicherheit in der Hauptstadt, Anderson Torres, hielt sich zu diesem Zeitpunkt in den USA auf. Er gilt als ein Verantwortlicher für die schwachen Sicherheitsvorkehrungen. Zuvor war er Minister in der Regierung von Jair Bolsonaro gewesen. Mittlerweile wurde er entlassen und der Generalstaatsanwalt fordert seine Verhaftung. Auch der Gouverneur wurde auf richterliche Anordnung hin für 90 Tage von seinen Aufgaben enthoben. Doch die Verantwortung geht über die beiden Personen hinaus. Die „kriminellen Aktivitäten“ hätten nur mit Zustimmung der zuständigen Autoritäten stattfinden können, so der Richter am Obersten Gericht Alexandre de Moraes. Er verfügte, dass ein „Protestcamp“ vor der Militärkaserne in Brasilia geräumt werden muss und zudem mehrere Social Media-Accounts gesperrt werden. Zusätzlich läuft die Identifizierung der Extremist*innen sowie der Finanziers. Bis zum 31. Januar sind Demonstrationen in Brasilia zunächst verboten.
Entmachtung des Gouverneurs
Moraes ist aufgrund seiner Funktion als Vorsitzender des Obersten Wahlgerichts sowie Berichterstatter zu Fake News in den vergangenen Monaten zu einem Lieblingsfeind von Bolsonaro geworden. Auch dadurch lässt sich der Hass auf das Oberste Gericht erklären. Der Rechtsstaat scheint nun entschlossen durchzugreifen. Präsident Lula verfügte bereits am Sonntag per Dekret eine „intervenção federal“ (Bundesintervention) und hob somit die bundesstaatliche Autonomie bis Ende des Monats auf. Dies bedeutet de facto eine Entmachtung des Gouverneurs, in diesem Fall um Sicherheit und Ordnung wiederherzustellen. Bis zum jetzigen Zeitpunkt wurden zudem mehr als 1.500 Personen verhaftet, die Situation scheint nun unter Kontrolle.
Im politischen Brasilien wird der Angriff auf die demokratischen Institutionen größtenteils scharf verurteilt. In einer gemeinsamen kurzen Erklärung bezeichneten Staatspräsident Lula sowie die Präsidenten der Abgeordnetenkammer, des Senats und des Obersten Gerichts die Geschehnisse als „terroristische Aktion, Vandalismus, kriminell und aufrührerisch“. Allein die extreme Rechte und Bolsonaro nahe stehende Akteure äußern Verständnis und sprachen zunächst von legitimen „Protesten durch das Volk“. Bolsonaro selbst distanzierte sich zwar vom Vandalismus. Während seiner Amtszeit hatte er jedoch den Nährboden dafür gelegt und immer wieder gegen demokratische Strukturen und Akteure gehetzt. Nach der Wahl gratuliert er weder dem Wahlsieger noch nahm er an der der Amtsübergabe teil, sondern setzte sich zuvor in die USA ab.
Forderungen nach Militärintervention
Auch nach der Abwahl Bolsonaros sind die anti-demokratischen Netzwerke in Brasilien weiter sehr aktiv. Bis zuletzt gab es Demonstrationen vor Militärkasernen, die eine Miltärintervention fordern. Ursprünglich sollten sie bis vergangenen Freitag geräumt werden, wurden aber vom Militär geduldet. Viele der Randalierer*innen kamen von dort. Nicht nur der radikale Teil der Bolsonaroanhänger*innen ist weiter sehr lebendig, insbesondere auch in Unternehmerkreisen und vor allem Sicherheitsbehörden sind Sympathisant*innen und aktive Unterstützer*innen Bolsonaros zu finden. Auch diese Information ist nicht neu. Spätestens seitdem bekannt wurde, dass im Nordosten Brasiliens, einer Hochburg Lulas Arbeiterpartei PT, die Autobahnpolizei versucht hatte, Gruppen von der Wahl abzuhalten, dürfte jedem klar geworden sein, dass es in den Polizeibehörden auch in gehobener Stellung radikale Kräfte gibt.
Die neue Regierung Lula ist angetreten, das Land zu versöhnen, steht aber vor immensen Herausforderungen bei leeren Kassen und enormen politischen, sozialen und ökonomischen Problemen. Auch wenn die Ereignisse in Brasilia von den demokratischen Kräften des Landes verurteilt werden, steht das Land keineswegs geschlossen hinter der neuen Regierung. Lula hat die Präsidentschaftswahl denkbar knapp gewonnen. Ein radikaler Teil der Gesellschaft erkennt ihn nicht als legitimen Präsidenten an. Zudem hat er keine Mehrheit im Kongress und ist auf Allianzen angewiesen. Ein Ergebnis der schwierigen Aushandlungsprozesse für die neue Regierung sind 37 Ministerien, die nun eine breite Koalition spiegeln sollen.
Wichtige Signale der Einheit
Darüber hinaus werden zahlreiche Bundesstaaten von politischen Gegner*innen regiert, so auch der Regierungsdistrikt Brasilia. Damit ist die aktuelle Regierung bei der Konfrontation mit anti-demokratischen Netzwerken auch auf die Zusammenarbeit mit den politischen Akteur*innen angewiesen, die zum Teil über das Bolsonaroticket gewählt wurden oder ideologisch nicht weit von ihm entfernt stehen. In Brasilien sind die Gouverneur*innen entscheidend für die Kontrolle der Polizeiorgane. Lula suchte am Montagabend direkt den Dialog mit allen Gouverneur*innen sowie Vertreter*innen der drei demokratischen Gewalten in einer gemeinsamen Sitzung. Die symbolischen Bilder senden wichtige Signale der Einheit für die Demokratie. Wie weit diese Einheit Bestand hat muss sich erst zeigen.
Die Vergleiche zu den USA drängen sich auf und tatsächlich sind die Parallelen kein Zufall. Auch in Brasilien sprachen die Demonstrant*innen von einer gestohlenen Wahl. Ein wichtiger Unterschied zur Stürmung des Kapitols in Washington ist jedoch, dass die Amtsübergabe und Transition nicht gestört wurden. Lula hatte in einer friedlichen Atmosphäre am 1. Januar das Präsidentenamt übernommen. Zudem waren während des Ansturms keine Abgeordneten im Kongress und auch Lula hielt sich zu dem Zeitpunkt in São Paulo auf. Vor allem aber stellte sich das Militär in den USA unmissverständlich auf die Seite der Demokratie. Die Bilder aus Brasilia und auch das vorherige Verhalten der brasilianischen Sicherheitsorgane bestätigen hingegen wieder einmal Zweifel. Eine unmittelbare Putschgefahr droht zwar nicht, aber die Politisierung von Teilen des Militärs und der Polizeiinstitutionen der letzten Jahre zeigte sich auch am Sonntag.
Schnell, geschlossen und unmissverständlich reagiert
Was bleibt? Die Randalierer*innen und Extremist*innen konnten wirkmächtige Bilder erzeugen. Sie leben vielfach in einer Parallelwelt, die nur noch schwer zu durchdringen ist. Es muss auch mit Nachdruck an der Überwachung der demokratiefeindlichen Netzwerke gearbeitet werden, die sich in den letzten Jahren praktisch unkontrolliert vermehren konnten und sich dadurch bestärkt fühlten. Diese Netzwerke zu identifizieren und auszuheben ist eine wichtige Aufgabe für die neue Regierung.
Die demokratischen Institutionen reagierten schnell, geschlossen und unmissverständlich. Aber die Ereignisse vom 8. Januar zeigen, wie lebendig die Anti-Demokratie-Bewegung ist, wie stark sie vernetzt ist und welche Unterstützung sie auch aus den Institutionen weiterhin bekommt. Um der Erosion der Demokratie entgegenzuwirken, braucht es die Einheit der demokratischen Kräfte und muss der brasilianische Staat gegen die Demokratiefeinde vorgehen und gleichzeitig Gesprächskanäle zu jenen Teilen der Bevölkerung suchen, die sich auch enttäuscht von demokratischen Akteuren und dem demokratischen Diskurs abkoppeln. Die schnelle internationale Solidarität mit der neuen Regierung und die Verurteilung der Attacke auf die demokratischen Institutionen sind zudem wichtige Zeichen. Denn die Geschehnisse und Entwicklungen nicht nur vom Wochenende, sondern der letzten Jahre in Brasilien sollten ein mahnenendes Beispiel für Demokratien weltweit sein.
Zuerst erschienen im IPG-Journal
leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Brasilien. Zuvor war er als Referent im Lateinamerika-Referat der Stiftung tätig.