Polen: Warum der EU-Gerichtshof das „Maulkorbgesetz“ verurteilt
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In Polen versucht die Regierungspartei PiS unter Jaroslaw Kaczynski seit 2015 mit einer Vielzahl von Gesetzen, die Justiz unter ihre Kontrolle zu bringen. Sie hat für eine regierungsfreundliche Mehrheit am polnischen Verfassungsgericht gesorgt. Auch der Justizverwaltungsrat, der die polnischen Richter*innen ernennt, wird inzwischen von der politischen Mehrheit kontrolliert.
Das „Maulkorbgesetz“ von 2019
Immer wieder stellen aber „alte Richter*innen“ die Unabhängikeit der unter PiS-Kontrolle berufenen „neuen Richter*innen“ in Frage. Um dies zu verhindern, hat das polnische Parlament Ende 2019 ein weiteres Justizreformgesetz beschlossen, das von der Opposition „Maulkorbgesetz“ genannt wurde. Danach ist es polnischen Richter*innen verboten, die Unabhängigkeit anderer polnischer Richter*innen zu prüfen. Für solche Fragen soll ausschließlich eine Kontroll-Kammer am Obersten Gericht zuständig sein, die nur mit regierungstreuen „neuen Richter*innen“ besetzt ist.
Falls polnische Richter*innen dieses Verbot ignorieren oder den EuGH in solchen Fragen einschalten, soll dies ein Disziplinarvergehen sein. Darüber soll letztlich die Disziplinar-Kammer am Obersten Gericht entscheiden, die ebenfalls nur mit „neuen Richter*innen“ besetzt ist. Zudem verlangte Polen von allen Richter*innen, dass sie angeben, in welchen Organisationen und Parteien sie Mitglied sind und waren. Diese Angaben wurden im Internet veröffentlicht.
Polen verstößt gegen Rechtsstaatlichkeit
Wegen dieses polnischen Gesetzes hat die EU-Kommission unter Ursula von der Leyen im April 2021 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen eingeleitet. Der EuGH solle feststellen, dass Polen hier gegen die Rechtsstaatlichkeit verstößt. An diesem Montag hat der EuGH der Kommission nun in vollem Umfang recht gegeben. Das Gesetz von Ende 2019 bedrohe die Unabhängigkeit der Justiz. Polen verstoße gegen das Verbot, jeden rechtstaatlichen Rückschritt zu vermeiden.
Es gehöre zur Aufgabe der Justiz, so der EuGH, die Unabhängigkeit der Rechtsprechung sicherzustellen. Diese Aufgabe dürfe nicht nur auf ein Gericht – die Kontrollkammer – beschränkt werden, zumal wenn dessen Unabhängigkeit selbst nicht gewährleistet ist. Die drohenden Sanktionen gegen Richter*innen, die ihre Aufgabe erfüllen, gefährde deren Unabhängigkeit. Die Veröffentlichung persönlicher Daten von Richter*innen im Internet könne zu unzulässiger „Stigmatisierung“ führen.
Mit Urtreil enden Zwangsgelder
Der EuGH bestätigte damit auch eigene Entscheidungen aus dem Juli und Oktober 2021, als er bereits die Unabhängigkeit der Disziplinarkammer und der Kontrollkammer am Obersten Gericht verneinte. Weil die Disziplinarkammer weiter arbeitete, verhängte der EuGH auf Antrag der EU-Kommission im Oktober 2021 Zwangsgelder in Höhe von einer Million Euro pro Tag. Nachdem die Disziplinarkammer durch ein neues polnisches Gesetz im Januar aufgelöst wurde, senkte der EuGH das tägliche Zwangsgeld auf 500.000 Euro. Polen habe aber Strafverfahren gegen unbotmäßige Richter*innen nicht ausgesetzt.
Mit dem jetzigen Urteil enden auch die Zwangsgelder, die nur sichern sollten, dass Polen bis zum Urteil keine vollendeten Tatsachen schafft. Polen muss allerdings die noch nicht bezahlten Zwangsgelder noch begleichen. Wenn Polen das jetzige Urteil nicht umsetzt, muss die EU-Kommission ein neues Vertragsverletzungsverfahren einleiten, das auch zu neuen Zwangsgeldern führen kann.