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Pokerspiel der Großmächte in Mazedonien

Mitte Mai erschütterten Massenproteste die mazedonische Hauptstadt Skopje. Regierungsgegner trafen auf Regierungsunterstützer. Die Großmächte versuchen die Spannungen zu nutzen. Mazedonien wird zum neuen Kampffeld zwischen Moskau und Washington.
von Dmitri Stratievski · 29. Mai 2015
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Um die aktuelle Lage in Mazedonien verstehen zu können, muss man zurückblicken: Bis in die 90er Jahre war das Land die kleinste Teilrepublik Jugoslawiens. Ihre Elite hielt sich vom internen Ringen um die Vormachtstellung im unruhigen jugoslawischen Vielvölkerstaat fern und überließ dies Serbien und Kroatien. Auch wirtschaftlich war die Republik nicht sehr bedeutsam. Das BIP pro Kopf betrug in Mazedonien 1971 etwa fünf Prozent des gesamtjugoslawischen. Ebenfalls bei fünf Prozent lag der mazedonische Anteil am Export der Föderation.

Politisch gab es in der Republik nur wenige Dissidenten und keine strukturierte oppositionelle Bewegung. Dementsprechend spielten die neuen mazedonischen Reformpolitiker keine führende Rolle bei der Dezentralisierung Jugoslawiens. Sie bestimmten nicht die Agenda, sondern wurden eher von der Geschichte mitgezogen. Der Austritt Mazedoniens aus dem Staatenbund erfolgte friedlich. Beim Referendum 1991 stimmte zwar eine gewaltige Mehrheit für die Unabhängigkeit. Stimmberechtigt waren jedoch nicht nur mazedonische Bürger, sondern Vertreter der großen Diaspora in Kanada, Australien und in den USA. Die albanische Minderheit boykottierte den Volksentscheid gleich ganz und organisierte ihre eigene Abstimmung über die Autonomie der Gebiete mit einem hohen albanischen Bevölkerungsanteil. 

Armut und ethnische Spannungen

Von einem Tag auf den anderen erlangten (uns nicht erkämpften, wie die Kroaten) die Mazedonier ihre Eigenständigkeit in den Grenzen der ehemaligen sozialistischen Region. Sie mussten sich mit den neuen Realitäten abfinden. Neben der Armut (das BIP pro Kopf beträgt derzeit cirka 4000 Euro; zum Vergleich: Der EU-Durchschnitt liegt bei 27 300 Euro in Kroatien beträgt das BIP 10 200 Euro) erbte das Land auch die ethnischen Spannungen. Die albanische Gemeinde wuchs durch Flüchtlinge aus dem Kosovo. Bei der Volkszählung 2002 bezeichneten sich 64 Prozent der Bevölkerung als mazedonisch und 25 Prozent als albanisch.

Die politische Landschaft der Republik ist zweitgeteilt. Für die jeweilige Strömung gibt es eine albanischstämmdige und eine mazedonischstämmige Partei. 2001 erschütterten Zusammenstöße zwischen mazedonischen Sicherheitskräfte und albanischen Separatisten mit hunderten Toten das ganze Land. Der Westen beendete das Blutvergießen, schaffte aber keinen dauerhaften Frieden in der Gesellschaft. In einigen Schulen, zum Beispiel in Tetowo, wird der Unterricht nach dem ethnischen Prinzip immer noch separat angeboten.

Keine Formel für ein friedliches Miteinander

Die Entspannungsbemühungen der mazedonischen Regierungen und der internationalen Organisationen haben wenig Erfolg. Die Jugendlichen besuchen zwar gerne die von den deutschen und amerikanischen Coaches geführten Seminare zum Konfliktmanagement, geben aber gleichzeitig an, dass sie kaum Freunde aus einer „anderen“ Bevölkerungsgruppe haben. Ein 17-jähriges mazedonisches Mädchen beantwortete die Frage nach einem möglichen albanischen Lebenspartner mit einem klaren „Nein“. Anscheinend hat Mazedonien noch keine Formel für ein friedliches Miteinander gefunden.

Das zeigen die jüngsten bewaffneten Auseinandersetzungen in Kumanovo deutlich. Stattdessen versucht die mazedonische Führung, nationale Mythen zu entwickeln und ließ im Zentrum von Skopje prachtvolle Denkmäler und Bauten zu Ehren der Helden aus der Antike und dem Mittelalter errichten, die das Land sich eigentlich gar nicht leisten kann.

Mazedonien im Visier der Großmächte

Das Land ist politisch instabil und arm. Die Gesellschaft ist gespalten. Die Politik ist korrupt. Diese Faktoren möchten ausländische Mächte für sich nutzen. Formell sind die meisten politischen Kräfte Mazedoniens prowestlich und streben den EU- und NATO-Beitritt an. Skopje bemüht sich stark, den Namensstreit mit Griechenland beizulegen (in Griechenland trägt eine Region den historischen Namen „Makedonien“ und Athen fürchtet Gebietsansprüche der mazedonischen Regierung) und damit eine Hürde auf dem Weg in die westlichen Institutionen zu überwinden. Unterdessen sind viele Bürger, mehrheitlich christlich-orthodox, von der Reformversuchen der letzten Jahre enttäuscht und sehnen sich  nach der „guten alten Zeit“ zurück.

So kommt Russland ins Spiel. Nachdem Moskau auf den Bau der Gasleitung „South Stream“ verzichtet hat, favorisiert der russische Staat nun eine andere Pipeline: Turkish Stream. Während Bulgarien keine Baugenehmigung hierfür erteilte, sieht das kleine Mazedonien hierin seine wirtschaftliche Chance. Der Beginn der Massenproteste gegen die konservative Regierung unter Nikola Gruevski Mitte Mai stellt der Kreml in Verbindung mit den Ereignisse in Kumanovo Anfang Mai, bei denen Polizeikräfte gegen eine bewaffnete Gruppe Albaner vorgegangen war.

Moskau stuft dies als eine neue Phase der „bunten Revolutionen“ ein, wie in Russland die Regierungsumstürze in Serbien, Georgien und der Ukraine genannt werden. Führende russische Politiker meinen, die aktuelle Zuspitzung sei eine Strafe des Westens für die russlandfreundliche Strategie Mazedoniens: Der EU-Beitrittskandidat interessierte sich nicht nur für das Gazprom-Projekt, sondern wollte den EU-Sanktionen gegen Russland nicht folgen.: „Mazedonien zahlt seinen Preis für die Pipeline“, behauptet der russische Politikwissenschaftler Geworg Mirsojan.

Ambivalente Rolle der mazedonischen Sozialdemokraten

Die Situation in Mazedonien ist vielschichtig. Jede einseitige Betrachtung schadet dem objektiven Bild des Geschehens. Die ethnischen Spannungen sind nicht neu. Gruevski, früher als reformorientierter Handels- und Finanzminister bejubelt, steht seit 2006 an der Spitze der Regierung und kann sich nicht gerade Popularität erfreuen. Die große Kundgebung mit bis zu 30 000 regierungstreuen Teilnehmern im Mai sollte nicht täuschen. Gruevskis Wahlsiege sind vor allem seiner konsequenten pro-mazedonischen Haltung zu verdanken, während sein Rivale Zoran Zaev die Nähe zu den Albanern in Mazedonien und im Kosovo sucht.

Darüber hinaus wirft die Opposition dem Regierungschef längst Korruption und begrenzte Reformbereitschaft vor. Die Sozialdemokraten haben aus Protest seit April 2014 an keiner Parlamentssitzung mehr teilgenommen und fordern den Rücktritt Gruevskis. Doch auch sie tragen keine weiße Weste. Die Sozialdemokratische Liga Mazedoniens (SDSM) ist keine programmatische Partei, die der sozialdemokratischen Linie treu bleibt. Bis 2006 war die SDSM selbst an der Macht. Ihre hochrangigen Vertreter manipulierten die Medien und brachten die Journalisten auf Kurs.

Welche Rolle spielen Washington und Moskau?

Parallel dazu will Washington den Bau der „Turkish Stream“-Pipeline offenbar verhindern. Mit der Verwirklichung dieses Projektes könnte Russland zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: neue Absatzmärkte erobern und alte Abnehmer dauerhaft anbinden. Das werden Amerikaner sicherlich nicht begrüßen.

Wie ist das Verhalten der Großmächte also zu bewerten? Wie so häufig, liegt die Wahrheit in der Mitte. Bei weitem nicht jeder Massenprotest in einem europäischen Land setzt sich das Ziel, Russland politisch einzudämmen. Das Manko der russischen Politik besteht darin, dass sie nicht die Strukturen oder die Eliten, sondern nur Einzelpersonen unterstützt, die aus Sicht Moskaus zu einem bestimmten Zeitpunkt „russlandfreudlich“ handeln.  Hier ist eine Parallele zur sowjetischen Vergangenheit zu ziehen, als die kommunistischen Machthaber im Kreml jeden Rebellenführer mit einer Geldspritze beglückten. Es reichte eine sozialistische Proklamation und keine Vorliebe für den Westen.

Mazedoniens Regierungschef Gruevski unternahm für eine mögliche EU- und NATO-Mitgliedschaft seines Landes mehr als jeder andere mazedonische Politiker. Moskau hat sich also verkalkuliert. Zugleich entwickelt sich gegenwärtig auf dem Balkan ein neues Pokerspiel der Großmächte. Mazedonien wird es schwer haben seinen eigenen Platz als wirtschaftlich angeschlagenes Nicht-EU-Mitglied zu finden.

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Dmitri Stratievski

ist promovierter Historiker, Politologe und Osteuropa-Experte.

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