Parlamentswahlen in der Ukraine: Pyrrhussieg für Selenskyi?
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Präsident Wolodymyr Selenskyi hat mit etwa 44 Prozent den erwarteten Erdrutschsieg eingefahren und eine große Fraktion an politischen Newcomern ins Parlament gebracht. Wird seine Partei „Diener des Volkes“ damit durchregieren können?
Tatsächlich hatte noch kein Präsident eine so große Parlamentsfraktion wie er und es sieht so aus, als sei er nicht auf einen Koalitionspartner angewiesen. Von einem Durchregieren kann aber keine Rede sein: Selenskyis Partei gibt es erst seit wenigen Monaten, es fehlt an regionalen Strukturen und erfahrenen Kadern, die Liste für das Parlament wurde kurzfristig gebildet und es herrscht nicht immer Klarheit über die Absichten einiger Fraktionsmitglieder. Dieses Problem zeigte sich schon bei der Zusammenstellung seines Regierungsteams. Die große Fraktion von „Diener des Volkes“ ist zudem alles andere als homogen: Man findet glaubwürdige zivilgesellschaftliche Aktivisten, etwa aus dem Anti-Korruptionsbereich, neben Geschäftsleuten oder Persönlichkeiten, die Oligarchen wie Igor Kolomojskyj nahestehen. Dazu kommen bekannte Gesichter des Showbiz.
Eine wichtige Rolle spielen zudem die Direktwahlkreise – ähnlich wie in Deutschland wird etwa die Hälfte des Parlaments darüber gebildet. Hier zählt oftmals die Bindung an lokale Eliten oder den einen oder anderen Oligarchen mehr als die Zugehörigkeit zu einer Partei oder Fraktion. Schon Petro Poroschenko fiel es schwer, diese Abgeordneten bei der Stange zu halten. Diese Fraktion wird verschiedene Machtzentren haben, und es dürfte schwer werden, diese immer zu kontrollieren. Hinzu kommt, dass man als Abgeordneter in der Ukraine nur schwer vom eigenen Gehalt leben kann. Die Käuflichkeit von Abgeordnetenentscheidungen ist ein lange bekanntes Problem. Ohne eine signifikante Reform des Diätenwesens dürfte sich daran kaum etwas ändern. Bleibt diese aus, ist angesichts der hohen Zahl an Quereinsteigern das Risiko hoch, dass zahlreiche Abgeordnete sich mittelbar angreifbar machen.
Welche Kräfte konnten sich in den Reihen der Opposition durchsetzen?
Wie üblich für die Ukraine sind viele Wahlkreise an sogenannte unabhängige Kandidaten gegangen, die keiner Partei angehören. Üblicherweise schließt sich ein Großteil der größten Fraktion an. Sollte dies nicht reichen, ist es durchaus möglich, dass es doch zu einer Koalition kommt, auch wenn dies rechnerisch nicht notwendig wäre. Dies könnte die ebenfalls als Newcomern bestehende Partei „Holos“ – zu deutsch „Stimme“ – des populären Rocksängers Slawa Wakarchuk sein, die mit etwa 6 Prozent ein eher schwaches Ergebnis eingefahren hat, sich aber nun im Parlament profilieren dürfte. Wakarschuk spricht zudem das nationalpatriotische Klientel in der West-Ukraine an, welches Selenskyi gegenüber eher skeptisch eingestellt ist.
Eine ebenfalls nicht zu unterschätzende Rolle dürfte Julia Timoschenko spielen, die wohl langlebigste Figur des an und für sich kurzlebigen politischen Systems der Ukraine. Mit etwa 7 Prozent wird ihre Fraktion zwar nur eine kleine Rolle spielen, aber sie käme als Koalitionspartnerin in Frage. Timoschenko selbst könnte in einer Koalition sogar als mögliche Parlamentspräsidentin (und somit formal im zweithöchsten Amt des Landes) einen Gegenpol zu Präsident Selenskyi bilden, sollte dessen Macht durch die zu unterschiedlichen Interessengruppen hinter ihm faktisch gehemmt werden.
Wie ist das Ergebnis der pro-russischen Kräfte zu werten?
Mit etwa 12 Prozent hat die offen pro-russische Partei „Oppositionsplattform – Für das Leben“ das zweitbeste Ergebnis eingefahren. Der heimliche Anführer dieser Partei, Viktor Medwetschuk (Wladimir Putin ist Taufpate seiner Tochter) tritt zuletzt immer selbstbewusster auf und dürfte nun die Rolle des Oppositionsführers wahrnehmen, die er zudem bestens durch die zuletzt von seinen Hintermännern erworbenen Fernsehkanäle ausfüllen kann. Bewusste Provokationen wie öffentlichkeitswirksame Besuche in Russland oder nicht mit der Regierung abgestimmte Verhandlungen im Gasbereich oder zur Freilassung von Gefangenen dürften zunehmen.
Zudem ist es dieser Partei gelungen, in den nicht-besetzten Teilen der Gebiete Donezk und Luhansk die stärksten Ergebnisse zu holen. Sie haben es geschafft, die konkurrierenden Kräfte von Rinat Achmetov, dem reichsten Mann der Ukraine, auszustechen. Mit dem Vorsitzenden Jurij Boiko, Medwetschuk und Vadim Rabinowitsch an der Spitze hat sich der klar pro-russische Teil des ehemaligen Janukowitsch-Lagers gegen die Donezker Eliten, die die Ukraine lange Zeit kontrollierten, durchgesetzt. Nimmt man zudem die Ergebnisse weiterer mehr oder weniger pro-russischer Parteien hinzu, so kommt man auf etwa 20 Prozent. Gelingt es diesem Lager, sich wie 2006 und 2010 perspektivisch wieder zusammenzuschließen und auf Frustration angesichts anhaltender wirtschaftlicher Talfahrt und mögliche Enttäuschung zu bauen, so ist eine Rückkehr zu alter Stärke in künftigen Wahlen durchaus möglich.
Welche Rolle kommt zukünftig Ex-Präsident Petro Poroschenko zu?
Poroschenko ist es gelungen, die Talfahrt zu beenden und dank seiner nationalpatriotischen Kernklientel, vorwiegend aus der West-Ukraine, ein solides Ergebnis von etwa 8,5 Prozent einzufahren. In seiner Fraktion finden sich viele ehemalige Ministerinnen und Minister der letzten Regierung. Man sollte seinen Einfluss nicht unterschätzen. Poroschenko hat in 25 Jahren beste Geschäftsbeziehungen im ganzen Land aufgebaut, verfügt über wichtige Fernsehkanäle und hat faktisch noch immer viel Macht in Gerichten und Verwaltungen. Er muss zudem in die Offensive gehen, um sein politisches Überleben zu sichern: Sollte er zu schwach sein, dürften sich innerparteiliche Rivalen aufschwingen. Verliert er an Einfluss, droht ihm zudem möglicherweise die Strafverfolgung.
Wie kann Selenskyi dem Druck der Opposition standhalten?
Schaut man sich die Gemengelage der Opposition an, wird schnell klar: Poroschenko und Medwetschuk werden versuchen, Selenskij vor sich herzutreiben. Poroschenko wird ihm Verrat an den Idealen des Maidan und dem eingeschlagenen pro-westlichen Kurs unterstellen, sollte er zu sehr auf Russland zugehen. Medwetschuk könnte ihn mit all seiner Medienmacht und der Unterstützung Russlands attackieren, sollte Selenskij keine großen Zugeständnisse an Moskau machen und die Grundzüge von Poroschenkos Außenpolitik fortsetzen.
Erschwerend kommt hinzu, dass sich Poroschenko und Medwetschuk trotz aller politischen Unterschiede lange kennen und offenbar bis heute gut verstehen. So hat es Medwetschuk geschafft, während der Amtszeit Poroschenkos sein Medienimperium aufzubauen und nebenbei noch veritable Geschäfte zu machen, etwa durch sein Monopol im Diesel-Handel mit Russland. Sollte sich zudem die wirtschaftliche und soziale Lage für die einfachen Menschen weiter verschlechtern, droht Selenskyi wie viele seiner Vorgänger schnell an Strahlkraft zu verlieren.
Welchen politischen Spielraum hat Selenskyi?
Selenskyi und seine zukünftige Regierung müssten nun Poroschenko und Medwetschuk inhaltlich das Wasser abgraben: Durch eine kluge Wirtschaftspolitik, die die soziale Balance nicht aus den Augen verliert und durch eine dialogorientierte Außen- und Sicherheitspolitik, die gleichzeitig keine Selbstaufgabe bedeutet. Man sieht, auf welch tönernen Füßen Selenskyi trotz des guten Wahlergebnisses steht. Klar ist, dass ein bloßes Fortsetzen der bisherigen Linien ebenso zum Scheitern verurteilt sein dürfte wie ein Einschwenken auf den pro-russischen Kurs. Wirtschafts- und sozialpolitisch wird Selenskyi angesichts der hohen Schulden kaum manövrieren können, zudem dürften die Lebenshaltungskosten für die Menschen mittelfristig weiter steigen. Selbst die größte Parlamentsfraktion nutzt wenig, wenn die äußeren und inneren Rahmenbedingungen so schwierig sind.
Dieser Artikel erschien zunächst im ipg-Journal.
leitet die Redaktion des IPG-Journals. Sie ist Soziologin und war Herausgeberin der sozialwissenschaftlichen Zeitschrift Nueva Sociedad mit Sitz in Buenos Aires. Von 2008 bis 2012 leitete sie das Büro der FES in Ecuador.