Parlamentswahl in Polen: „Die Leute bekommen das Gefühl, die PiS besiegen zu können.“
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Herr Biedroń, Sie gelten als der polnische Macron. Zu Recht?
Ich bin Biedroń, nicht Macron. Ich sehe da viele Ähnlichkeiten, aber auch viele Unterschiede. Die Ähnlichkeit liegt, denke ich, darin, dass es auch in Frankreich die Gefahr des Populismus gab. Als Marine Le Pen auf die Präsidentschaft zusteuerte, war das für Frankreich eine große Bedrohung, aber auch für Europa, für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte. Macron gelang es nicht nur, Marine Le Pen in der Präsidentschaftswahl zu besiegen. Er brachte uns auch die Hoffnung, dass wir die Demokratie mit einem mutigen politischen Programm retten können, indem wir demokratische Standards auf die Tagesordnung setzen. Ich glaube, dafür sollten wir Macron bewundern. Aber er ist ein Neoliberaler. An der Stelle ist es mit den Ähnlichkeiten auch schon vorbei. Anders als Macron bin ich ein progressiver Politiker mit einer progressiven Agenda.
Die polnische Politik wurde lange von zwei Parteien beherrscht, der nationalkonservativen Recht und Gerechtigkeit (PiS) und der gemäßigten Bürgerplattform (PO). Ihre Feindseligkeiten befeuern den sogenannten polnisch-polnischen Krieg. Wie will ihre neue Partei Wiosna die Zerrissenheit des Landes überwinden?
Uns steht die Bewährungsprobe natürlich noch bevor, und wir brauchen Zeit, um zu wachsen, wie Blumen im Frühling. Wir sind ein politisches Startup, aber wir haben die Debatte schon umgeleitet vom polnisch-polnischen Krieg zu den täglichen Problemen der Menschen: Mindestlohn und Mindestrente, Luftverschmutzung, Wohnen, Gleichberechtigung von Männern und Frauen, gleiche Rechte für sämtliche Bevölkerungsgruppen in unserem Land. Wir haben die Diskussion in eine andere Sphäre verlagert, und das hat die politische Landschaft in Polen grundlegend verändert. Drei Jahre lang mussten wir zusehen, wie die PiS die Meinungsumfragen anführte. Nun, nachdem sie einige Fehler gemacht hat und Wiosna da ist, verliert Kaczyński in den Umfragen. Die Leute bekommen das Gefühl, die PiS besiegen zu können. Die Hoffnung, die wir gebracht haben, ist unaufhaltsam. Das ist der Anfang vom Ende der Ära Kaczyński und der Beginn einer neuen Ära progressiver Politik in Polen.
Die PiS hat im Frühjahr ein neues Programm vorgestellt mit verbessertem Kindergeld, höheren Renten und niedrigeren Einkommensteuern. Dieser Aufschlag ist dem von Wiosna sehr ähnlich. Werten Sie das als eine Reaktion auf Ihr Programm?
Natürlich muss die PiS reagieren. Die sind ja nicht blind. Wir haben mittlerweile eine Unterstützung von durchschnittlich 12 Prozent, das ist für polnische Verhältnisse ziemlich viel. Die PiS ist unterdessen offenbar weniger glaubhaft als vor drei Jahren. Die haben sich in eine Korruptionskrise und interne Kämpfe verstrickt. Deshalb versucht die PiS, mit sozialen Themen zu punkten. Aber wir stehen auf zwei Beinen: Wir kämpfen gegen soziale Ungerechtigkeit, aber wir verteidigen auch unsere Freiheiten, Menschenrechte, Gleichheit – für die PiS sind das lauter Symbole der Degeneration, einer schlecht organisierten Europäischen Union. Wenn wir eine Demokratie sein wollen, sollte uns das alles am Herzen liegen, denn es hängt alles zusammen.
Es leuchtet ein, dass Wiosna progressive und kosmopolitische Polen anspricht. Doch in einer katholischen Gesellschaft wie der polnischen finden sich auch viele konservative Seelen. Wie erreichen Sie die eher traditionellen, kirchenorientierten Wählerinnen und Wähler?
Die Menschen sind nicht blind. Kaczyński hat kürzlich eine neue homophobe Debatte losgetreten, aber Polen ist nicht Russland. Ich bin schwul und habe mich schon vor langem geoutet. Man kann dem polnischen Volk mit Homosexualität keine Angst mehr einjagen, denn die Menschen wissen, wie Homosexuelle leben, dass es gute und schlechte gibt wie überall. Ich glaube, diese Art der Debatte wird nicht mehr ziehen. Kaczyński hat sein Spiel verloren, weil er sich verzockt hat. Wir können das beobachten. Dank dieses Wandels und dank Wiosna wird der politische Frühling tatsächlich kommen.
Ihnen wurde vorgeworfen, die Opposition zu spalten. Die meisten potenziellen Wiosna-Wähler kämen von der Oppositionspartei PO, zeigen Umfragen. Spielen Sie der Regierung in die Hände?
Alle Umfragen zeigen, dass wir auch neue Wählerinnen und Wähler mobilisieren, die progressiver sind und die für keine der bestehenden Parteien stimmen würden. Wiosna weckt die Hoffnung, dass die Opposition Wahlen gewinnen kann. Alle polnischen Demokraten sollten jeden Abend vor dem Zubettgehen dafür beten, dass Wiosna Erfolg hat. Ohne Wiosna wird es nicht gehen.
Aber Sie lehnten es ab, sich der Europäischen Koalition anzuschließen, einem Bündnis polnischer Oppositionsparteien gegen die PiS.
Ich weiß, dass man mir anfangs vorwarf, gegen den Strom zu schwimmen, aber das ist jetzt nicht mehr der Fall. Wenn wir uns der Europäischen Koalition anschließen würden, dann würden viele Menschen gar nicht mehr zur Wahl gehen. Viele verachten die traditionellen politischen Parteien, sie wollen ihre Stimme einer frischen, neuen und mutigen Gruppierung geben. Was soll dabei herauskommen, wenn man Altes mit Frischem verbindet?
Ziehen Sie dann ein anderes Bündnis in Betracht, um die Macht der PiS zu brechen?
Ich ziehe jedes Bündnis mit der pro-demokratischen Seite in Polen in Betracht. Es ist unvorstellbar, dass eine der Oppositionsparteien eine Allianz mit Kaczyński und seiner PiS eingeht. Aber vor der Wahl wollen wir unsere eigene Themen vertreten. Wenn Sie die Europäische Koalition nach ihrem Programm für Wohnen, Landwirtschaft, Gleichheit von Männern und Frauen, eingetragenen Lebenspartnerschaften, Kohle und erneuerbaren Energien fragen, dann hat sie darauf keine Antworten parat. Und sie kann auch gar keine Antworten haben, weil die Koalition zu breit ist. Grüne und Konservative werden sich nie über die Zukunft der Kohle einig werden, jedenfalls nicht im heutigen Polen. Konservative und Liberale werden sich nie über eingetragene Lebenspartnerschaften einigen. Deshalb kann die Koalition kein glaubhaftes Programm vertreten. Und deshalb schließen wir uns ihr auch nicht an.
In den letzten Jahren sind in Polen mehrere neue Bewegungen und Parteien entstanden, etwa Razem, Nowoczesna und Twój Ruch, der Sie angehört haben. Alle sind sehr hoffnungsvoll gestartet, haben es dann aber nicht geschafft, den Schwung zu nutzen. Was hat Wiosna aus ihren Fehlern gelernt?
Ich investiere langfristig in Wiosna, damit die Partei Bestand hat. Aber ich glaube nicht, dass traditionelle Parteien in der Politik heute noch so wichtig sind. Es werden neue Bewegungen entstehen, die neue Themen auf den Tisch bringen und mit einer neuen Politik und neuen Politikern die politische Landschaft beleben. Sie werden ihre Rolle spielen und manchmal auch wieder verschwinden, und das finde ich im 21. Jahrhundert völlig in Ordnung. Wenn man sich die erwähnten politischen Parteien ansieht, haben sie alle interessante Impulse in die Politik eingebracht.
Was zum Beispiel?
Die Bewegung Twój Ruch, der ich angehört habe, setzte die Trennung von Staat und Kirche auf die Tagesordnung. Sie begann eine Debatte über Verfehlungen in der polnischen Kirche, Probleme der Pädophilie und Kirchenfinanzen. Alles Themen, die Politiker und Medien nicht behandelt haben. Ich bin wegen Twój Ruch in der Politik. In vielen Debatten waren Minderheiten nicht repräsentiert, und Twój Ruch hat mich und einige meiner Kollegen in den Mainstream der Politik befördert. Ist das in einem traditionell konservativen, vorwiegend rechtsgerichteten Land nicht erfrischend? Die Bewegung ist verschwunden, aber etwas ist geblieben. Ich glaube, das ist wichtig.
Die derzeitige Regierung liegt häufig im Clinch mit Brüssel. Wo sehen Sie die Rolle Polens in Europa und die Rolle der EU in Polen?
Unser Prinzip ist es, dass wir Teil einer starken Europäischen Union und NATO sein wollen. Wenn wir in einem sicheren Umfeld leben und Schutz genießen wollen, sollten wir uns in diese beiden Institutionen stärker integrieren. Aber wir wollen auch, dass die Europäische Union die alltägliche Probleme behandelt, den Kampf gegen Luftverschmutzung, die Versorgung mit einem guten Gesundheitssystem, guter Bildung. Die EU hat uns gewaltige Veränderungen in der Infrastruktur gebracht. Wir haben jede Menge Stadien, Flughäfen und Autobahnen gebaut. Aber nun sollten wir eine neue Ära einläuten, in der wir uns unmittelbar für die Lösung alltäglicher europäischer und polnischer Probleme einsetzen. Die Politik sollte praktisch orientiert sein.
Was können EU und NATO von Polen erwarten? Nach dem Ende des INF-Vertrags fürchten einige Beobachter, dass Polen eine Neustationierung von US-Atomraketen auf seinem Gebiet erlauben könnte. So eine bilaterale Übereinkunft mit den USA würde die NATO spalten.
Die Position der derzeitigen polnischen Regierung ist es, EU-Strukturen zu schwächen und sich an Donald Trumps Politik zu orientieren. Sie meint, wenn wir uns Donald Trump und seinen Ideen annähern, werden wir sein Lieblingskind in Europa – aber das wird nicht geschehen. Ich denke, wir sollten Amerika auch weiterhin als unseren engsten Verbündeten betrachten, gleichzeitig aber mehr in die europäische Sicherheit und Verteidigung investieren. Das ist eine langfristige Strategie. Man darf nicht vergessen, dass in Polen so ein Gefühl herrscht – das ich bis zu einem gewissen Grad verstehen kann –, dass unsere europäischen Partner oft nicht die gemeinsamen Interessen, sondern ihre spezifischen Interessen verfolgen.
Sprechen Sie gerade über die umstrittene Gaspipeline Nord Stream 2?
Ja, ich meine Nord Stream 2. Man muss auch begreifen, warum die Polen dieses Spiel treiben. Wenn wir von europäischer Solidarität reden, dann sollte die Solidarität immer zur Anwendung kommen, für alle, in allen Bereichen. Das war in der Vergangenheit nicht immer der Fall.
Das Interview erschien zuerst im IPG-Journal.
leitet die Redaktion des IPG-Journals und arbeitet in der Internationalen Politikanalyse der Friedrich-Ebert-Stiftung. Als Korrespondentin und Redakteurin war sie für verschiedene überregionale Tageszeitungen im In- und Ausland tätig.