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Paris nach den Anschlägen: Weiterleben im Schatten des Terrors

Eine Woche nach den Anschlägen mit 129 Toten ist Frankreich noch im Schockzustand. Doch die Parteipolitik gewinnt wieder an Raum, wie eine Sitzung der Nationalversammlung diese Woche zeigte.
von Christine Longin · 20. November 2015

Sie hießen Elodie, Salah und Maxime: Jeden Tag veröffentlichen die französischen Zeitungen neue Fotos der 129 Oper der Terroranschläge vom 13. November – meist junge Leute mit lachenden Gesichtern. „Das Frankreich, das die Mörder umbringen wollten, war das der Jugend in ihrer Verschiedenartigkeit“, sagte Präsident François Hollande am Montag vor dem Kongress in Versailles. Und so sind es vor allem die Jugendlichen, die durch die Attentate traumatisiert sind. Kaum einen gibt es, der nicht ein Opfer oder einen Augenzeugen kennt, wenn auch nur indirekt. Die Sorbonne, die historische Universität im Herzen von Paris, hatte Hollande deshalb für die Schweigeminute ausgesucht, in der er wie Millionen Franzosen der Opfer gedachte. Die Studenten dort müssen seit Freitag mit der neuen Bedrohung leben: Ihre Tasche werden jeden Morgen ganz genau durchsucht. Denn jeder weiß: Der Terror ist noch nicht vorbei, auch wenn der Drahtzieher Abdelhamid Abaaoud bei einem Polizeieinsatz am Mittwoch getötet wurde.

„Die makabre Vorstellungskraft der Auftraggeber ist grenzenlos“, warnte der sozialistische Regierungschef Manuel Valls am Donnerstag vor der Nationalversammlung. Es war seine Art, für die Verlängerung des Ausnahmezustands zu werben, den Hollande direkt nach den Anschlägen verhängt hatte. Durchsuchungen ohne Richterbeschluss, Kontrolle der Medien und Hausarrest für Verdächtige sind dadurch möglich. Mit 551 Ja- und nur sechs Nein-Stimmen verabschiedete das Abgeordnetenhaus die Maßnahmen, die nun bis Ende Februar gelten sollen. Die Parlamentarier zeigten dabei die Einigkeit, die ihnen in den Tagen nach den Anschlägen fehlte. Zur nationalen Einheit hatte Hollande noch am Abend der Terrorserie aufgerufen, doch die Opposition wollte sich diesem Appell nicht beugen.

Einfluss auf Regionalwahlen

Das stärkste Zeichen gegen die Regierung setzten die Abgeordneten der konservativen Republikaner (LR) am Dienstag, als sie Valls und Justizministerin Christiane Taubira in der Nationalversammlung konsequent ausbuhten. „Wir schulden den Franzosen etwas Besseres“, kritisierte der konservative Abgeordnete Franck Riester hinterher. Doch im Dezember sind Regionalwahlen und der Wahlkampf wurde dieser Woche nach und nach wieder aufgenommen. Immerhin 43 Prozent der Franzosen sind der Meinung, dass die Anschläge die Abstimmung beeinflussen werden. „Momentan scheint die Situation günstig zu sein für den Front National und die Linksparteien“, sagte der Chef des Meinungsforschungsinstituts Harris Interactive, Jean-Daniel Lévy, der Zeitung „20 minutes“. Er sieht den rechtsextremen Front National, der sich durch die Ereignisse in seinem Kurs für mehr Sicherheit und gegen Einwanderung bestätigt sieht, landesweit als stärkste Partei. Doch auch die Linke, die sich nicht in allen Regionen auf gemeinsame Listen einigen konnte, profitiere von einer „gewissen Mobilisierung“.

Den Sozialisten Hollande, der als unbeliebtester Präsident der vergangenen Jahrzehnte gilt, sehen drei Viertel der Franzosen in einer anderen Umfrage nach den Anschlägen „auf der Höhe“ der Ereignisse. Der Staatschef, der nach den Anschlägen im Januar auf das Satire-Magazin „Charlie Hebdo“ bereits vom „Charlie-Effekt“ profitierte, gewinnt also auch diesmal an Popularität.

Muslime gehen auf Distanz zu Attentätern

In seiner Rede vor dem Kongress versuchte er am Montag, seine Landsleute wieder aufzurichten: „Frankreich hat größere Prüfungen bestanden“, sagte Hollande gleich am Anfang seiner 30-minütigen Ansprache vor den beiden Kammern des Parlaments. Gleichzeitig appellierte er an die Franzosen, ihren Lebensstil beizubehalten – vor allem auch das Zusammenleben verschiedener Religionen und Kulturen, denn: „Das Zusammenleben ist unser höchstes Gut.“ In Frankreich lebt nicht nur die größte muslimische, sondern auch die größte jüdische Gemeinde Europas.

Die Muslime gingen schnell auf Distanz zu den Attentätern. Am Freitag sollte in den rund 2500 Moscheen des Landes ein Text verlesen werden, in dem jede Form des Terrorismus verurteilt wird. „Wir dürfen nie müde werden, laut zu verkünden, dass der wahre Islam Lichtjahre von der Ideologie des Hasses diese kriminellen Terroristen entfernt ist“, heißt es darin. Die große Solidaritätskundgebung mit den Opfern vor der großen Moschee von Paris wurde allerdings aus Sicherheitsgründen abgesagt.

Autor*in
Christine Longin

Christine Longin begann ihre journalistische Laufbahn bei der Nachrichtenagentur AFP, wo sie neun Jahre lang die Auslandsredaktion leitete. Seit vier Jahren ist sie Korrespondentin in Frankreich, zuerst für AFP und seit Juli für mehrere Zeitungen, darunter die Rheinische Post.

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