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Österreich: Der unaufhaltsame Fall des Sebastian Kurz

Wenn der Berg einmal ins Rutschen kommt, dann ist nichts mehr zu halten. Nach dem Rücktritt von Sebastian Kurz ist in der österreichischen Innenpolitik jetzt so viel Dynamik, dass man unmöglich voraussagen kann, was in drei Tagen geschieht.
von Robert Misik · 13. Oktober 2021

Vor einer Woche war Sebastian Kurz noch die dominierende Figur der österreichischen Innenpolitik. Als Kanzler war er trotz erheblicher Schrammen durch die Korruptionsermittlungen gegen seine Partei – und Ermittlungen gegen ihn selbst wegen falscher Zeugenaussage – noch immer weitgehend unumstritten, seine Partei lag in Umfragen bei 38 Prozent, die nächstgelegenen Sozialdemokraten abgeschlagen bei 21 Prozent.

ÖVP im freien Fall

Am Ende der Woche war Kurz als Kanzler abgetreten, seine Partei in Umfragen auf 25 Prozent abgestürzt, erstmals seit Jahren liegen ÖVP und SPÖ wieder gleichauf bei 25-26 Prozent an Zustimmung. Die Kurz-Partei ist im freien Fall, das Kartenhaus stürzt ein, trotz der panischen Rochade, mit der die ÖVP Alexander Schallenberg als neuen Regierungschef installierte und Kurz auf den Posten des Fraktionschefs im Parlament abschob. Wie kam es dazu?

Seit dem Ibiza-Skandal 2019 legen Korruptionsermittler*innen der „Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft“ (WKStA) in bemerkenswerter Akribie und Entschlossenheit kriminelle Netzwerke und Amtsmissbrauch offen, beschlagnahmen Unterlagen, Handys, sonstige Datenträger, und jede Auswertung ergibt Hinweise auf neue Straftaten. So nähern sie sich immer mehr dem Zentrum der Macht, Sebastian Kurz und der Jungmännerpartie, die sich „Prätorianer“ nennen.

Vergangene Woche dann der Knalleffekt: Hausdurchsuchungen in Kanzleramt, ÖVP-Parteizentrale und Finanzministerium, dazu ein Hausdurchsuchungs-Beschluss auf 104 Seiten, der es in sich hat. Ergänzt ist das offensichtlich durch Auswertungen der Chat-Protokolle der Beschuldigten auf rund 500 Seiten. Bestechlichkeit, Bestechung, Untreue und andere Sachverhalte kommen zu den ohnehin schwebenden Verfahren wegen falscher Zeugenaussage noch hinzu. Und neben den handfesten Indizien für viel kriminelle Energie ergeben die Chatprotokolle auch einfach ein Sittenbild der Unmoral, der Hybris, auch der Peinlichkeiten, der Bereicherungsabsichten mancher Beteiligter und zugleich der Machtbesessenheit von Kurz und seiner Entourage, deren Bereitschaft, alle Regeln der Demokratie und auch des Anstandes zu missachten.

Wechselspiel von Politik und Medien

Sebastian Kurz hat seit vielen Jahren an seinem Aufstieg gearbeitet und dabei ein Netzwerk ihm treu ergebener junger Leute – vor allem Männer – um sich geschart. Er selbst präsentierte sich als glanzvoller Strahlemann, als die Kraft des Neuen, er hatte auch phantastische Zustimmungswerte. Wo die nicht reichten wurde nachgeholfen, indem positive Berichterstattung gekauft wurde, durch das in Österreich nicht unbekannte Wechselspiel von Politik und Medien, einer Mischung aus zu viel Nähe, aus Eitelkeiten, aber auch von Geldgeschäften. Ministerien schalten Annoncen in Zeitungen, vor allem, aber nicht nur, am Boulevard, dafür wird hintenherum – oder manchmal auch auf offenerer Bühne – positive Berichterstattung eingefordert und zugesagt. Letztlich ist das eine Erpressung in beide Richtungen: Die Politik lockt mit Geld und droht damit, den Geldhahn abzudrehen, die Medienmogule drohen damit, die Politiker „runterzuschreiben“ oder locken damit, sie „raufzuschreiben“. Sebastian Kurz und seine Truppe haben das auf ruchlose Weise auf die Spitze getrieben.

Die Kurz-Bande fühlte sich unverwundbar, der Anführer hatte ein gigantomanisches Selbstbild, das von den Anhänger*innen auch täglich schön genährt wurde. Man sammelte Millionen bei reichen Unterstützer*innen ein, und man wollte sich auch nicht darauf verlassen, dass man schon auf faire Weise Wahlen gewinnen würde. Zunächst musste Kurz‘ Vorgänger als ÖVP-Chef, Reinhold Mitterlehner, aus dem Weg geräumt werden, dann die Wahl gegen die SPÖ von Christian Kern gewonnen werden. Dabei wurden Millionen eingesetzt, mutmaßlich lobhudlerische Artikel gekauft, Meinungsumfragen gefälscht, und das ganze teilweise offenkundig auch noch über Ministeriumskassen abgerechnet. Öffentliche Gelder, so der Vorhalt der Staatsanwaltschaft, seien mutmaßlich zu parteilichen Zwecken eingesetzt worden, woraus sich der Sachverhalt der Untreue ergibt.

Mafiaähnliche Bandenstruktur

Erledigt wurde alles das von Vertrauten Sebastian Kurz, deren Gehabe ist bestens dokumentiert, und Kurz war immer wieder in die Chat-Gespräche involviert, informiert und hat zumindest seine „Meinung“ geäußert, die jeder Paladin wohl als Auftrag interpretieren konnte oder zumindest als Zustimmung zu den Praktiken. Deshalb führt die Staatsanwaltschaft auch Kurz selbst als „Bestimmungstäter“, also als Anstifter, quasi als Paten einer mafiaähnlichen Bandenstruktur. Im Wahlkampf selbst hat Kurz aus der Unterstützerschar von Konzernen, Unternehmern und steinreichen Vermögenden Millionen eingesammelt und die Wahlkampfkostenobergrenze um rund sechs Millionen Euro überzogen, somit beinahe um das Doppelte des erlaubten Betrages. Er hat sich also im Grunde mit kriminellen, unlauteren Mitteln an die Macht getrickst, aber dieses kleine Detail hat keine gröberen Folgen, da dies zwar verboten, aber mit keinen nennenswerten Strafandrohungen bewehrt ist – seine Partei musste dafür einen lächerlichen Betrag von 800.000 Euro an Strafe bezahlen.

Nach der Bombe von vergangener Woche wollte sich Sebastian Kurz sogar noch im Amt halten. Die Korruptionsstaatsanwaltschaft wurde als Hort „linker Zellen“ diffamiert, die die Unschuldsvermutung missachte. Die Minister*innen der ÖVP-Riege und die mächtigen Landeshauptleute (Ministerpräsident*innen) wurden zu peinlichen Treueschwüren und Durchhaltepamphleten gegenüber dem Führer vergattert. Bis es sickerte, dass es mit Sebastian Kurz an der Regierungsspitze nicht mehr weiter ginge.

Kurz‘ „freiwilliger“ Rückzug

Dafür sorgten drei Geschehnisse. Erstens machte der Koalitionspartner, die „Grünen“ klar, dass man unter einem Kanzler Sebastian Kurz nicht mehr weiter regieren würde, man aber zur Koalition stünde. Ergo: Die ÖVP müsse Kurz auswechseln. Sebastian Kurz hätte sich an dieser Stelle wohl noch gerne in Neuwahlen geflüchtet, wie sein großes Vorbild Benjamin Netanjahu, der sich bei jedem Korruptionsermittlungsschritt durch plebiszitäre Wahlgänge die Rückendeckung der Wählerinnen und Wähler holte. Doch ein zweiter Move schob dem einen Riegel davor. Bei den Sozialdemokrat*innen nahm Parteichefin Pamela Rendi-Wagner die Sache in die Hand und lotete mit den regierenden Grünen und den anderen Oppositionsparteien aus, ob eine politisch unnatürliche Notallianz möglich wäre. Angesichts einer gefährlich kriminellen Netzstruktur an der Regierungsspitze sollten alle anderen Parteien temporär zusammenarbeiten, um Kurz nachhaltig aus der Politik zu entfernen.

Das heikle daran: Es wäre dabei auf eine Ampel aus SPÖ, Grünen und liberalen Neos hinausgelaufen, die die rechtsextreme FPÖ mit in eine Allianz holen hätte müssen, entweder als tolerierender Part einer Minderheitsregierung oder, worauf es wahrscheinlicher hinausgelaufen wäre, als regelrechter Koalitionspartner. Es zeichnete sich über den Freitag und Samstag vergangener Woche ab, dass eine solche Allianz stehen würde. Drittens: Währenddessen wurden – möglicherweise gerade wegen dieser Aussicht, vollends aus der Regierung zu fliegen – die ÖVP-Landeschefs aktiv und verabredeten den Plan, Sebastian Kurz zum Rücktritt zu zwingen. Als der all das mitbekam, entschied er sich noch in der Nacht zum „freiwilligen“ Rückzug.

Keine stabile Lösung in Sicht

Alexander Schallenberg, ein enger Vertrauter von Kurz aus Außenminister-Jahren, wurde als neuer Kanzler installiert, gewissermaßen als Strohmann des gestrauchelten Anführers, der sich auf den Posten des Parteichefs und Fraktionsvorsitzenden zurückziehen wollte. Aber auch das wird wohl keine stabile Lösung sein können. In der österreichischen Innenpolitik ist jetzt so viel Dynamik, dass man unmöglich voraussagen kann, was in drei Tagen geschieht. Was heute noch als fix gilt, kann morgen schon überlebt sein. Ein bisschen ist es so wie beim Sturz autoritärer Machthaber wie Erich Honecker: Wenn der Berg einmal ins Rutschen kommt, dann ist nichts mehr zu halten.

Zuletzt wurde die erste Beteiligte in Haft genommen und Thomas Schmid, der Netzwerker aus dem Finanzministerium, dessen großspurigen Chat-Exzesse die Truppe ans Messer liefern dürften, könnte als Kronzeuge aussagen, wird jetzt spekuliert. Es scheint zunehmend unrealistisch, dass die fragile neue Balance lange halten könne. Sebastian Kurz‘ Rochade auf den Fraktionsvorsitz dürfte eher nur eine Etappe in einem Sturz auf Raten sein, so wie ein Gestolperter, der jetzt Treppenstufe auf Treppenstufe aufschlägt und immer weiter fällt. Die ÖVP wird wohl sehr bald einen vollständigen Schnitt vornehmen und sich von der gesamten Bande trennen, einfach, um einen drohenden Untergang zu vermeiden. Alles andere wäre in der gegenwärtigen Lage auch einfach suizidal.

Autor*in
Robert Misik
ist Journalist und politischer Autor. Er lebt in Wien.
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