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Ostdeutschland als Vermittler in Europa

25 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung hat sich auch das Gesicht Europas drastisch verändert. Euphorie ist Resignation gewichen. Gerade Ostdeutschland kann hier eine wichtige Rolle spielen, um Vertrauen zurückzugewinnen. Ein Beitrag von Dietmar Woidke
von Dietmar Woidke · 2. Oktober 2015
Grenze Polen Deutschland
Grenze Polen Deutschland

(...) Im neuen Europa, das in der Folge des welthistorischen Umbruchs von 1989 entstand, ist Deutschland der gewichtigste Akteur. Zusammengefügt aus zwei Landesteilen, die in den Jahrzehnten der Teilung und des Ost-West-Konflikts jeweils „Frontstaaten” ganz am äußersten Rande ihres jeweiligen Bündnisses waren, ist das vereinigte Deutschland unvermittelt in die Mitte Europas gerüückt. Die Rolle der „Macht in der Mitte” (Herfried Münkler) hat Deutschland keineswegs ehrgeizig angestrebt – sie ergibt sich ganz natü̈rlich aus den geografischen, wirtschaftlichen und politischen Bedingungen der neuen Konstellation in Europa. Mit etwa 8 Prozent des Gebiets der Europäischen Union und ungefä̈hr 17 Prozent der EU-Bevö̈lkerung traägt Deutschland gegenwä̈rtig ein knappes Drittel zur wirtschaftlichen Leistung der 27 Mitgliedsstaaten der EU bei. Allein schon diese Rahmendaten machen deutlich, dass an Deutschland innerhalb der Europä̈ischen Union kein Weg vorbei fü̈hrt.

Unter den Staaten Europas haben wenige Lä̈nder im letzten Vierteljahrhundert eine auch nur annä̈hernd vergleichbare „Friedensdividende” eingefahren wie Deutschland. In sicherheitspolitischer Perspektive ist festzustellen, dass unser Land heute erstmals in seiner Geschichte ausschließlich von befreundeten Staaten umgeben ist – und Deutschland hat ein existenzielles Interesse daran, dass dies so bleibt. In ö̈konomischer Perspektive ist Deutschland als Industrie- und Exportnation auf die fortgesetzte Existenz und Vitalitä̈t des zusammenhaängenden Wirtschaftsraums der EU angewiesen. Und in historischer Perspektive, vor dem Hintergrund unserer höchst problematischen Geschichte im 20. Jahrhundert, hat Deutschland ohnehin jeden Grund, weiterhin mit aller Kraft auf das Gelingen des europä̈ischen Projekts zu setzen. Ü̈berhaupt nur fest eingebunden in die Europä̈ische Union kann unser Land auf eine gute und friedliche Zukunft hoffen.

Die Interessenkonflikte innerhalb Europas nehmen zu

Aber diese gute und friedliche Zukunft ist heute gefä̈hrdet. Die andauernde Fiskal- und Wirtschaftskrise im Sü̈den Europas seit 2010, die schwere Russland-Ukraine-Krise seit 2014 sowie die in jü̈ngster Zeit dramatisch zugespitzte Flü̈chtlingskrise aufgrund von Kriegen, Terrorismus und Staatszerfall im ö̈stlichen Mittelmeerraum sowie in Afrika sind nur die drei eklatantesten politischen Herausforderungen, denen sich die Europä̈ische Union heute ausgesetzt sieht. Mit dem Konflikt um den mö̈glichen Austritt Großbritanniens ist ein weiterer innereuropäischer Krisenherd hinzugekommen. Der zunehmende Krisendruck lä̈sst zugleich die Belastungen für die Stabilitä̈t und den inneren Zusammenhalt Europas wachsen.

Denn die einzelnen Krisen betreffen die verschiedenen Mitglieder und Regionen politisch und wirtschaftlich auf sehr unterschiedliche Weise: Kiew ist von Lissabon aus gesehen sehr weit entfernt, und Lampedusa wiederum erscheint weit weg von Warschau. Darum nehmen die Interessenkonflikte zu. Nach Jahrzehnten der Integration und des Zusammenwachsens ist in Europa die Gefahr von Desintegration und Zerfall nicht mehr vö̈llig von der Hand zu weisen. Was bis vor einiger Zeit noch zusammenwuchs, strebt nun zunehmend auseinander. In den Worten Herfried Mü̈nklers: „Die zentrifugalen Krä̈fte sind gewachsen, und um sie einigermaßen im Zaum zu halten, bedarf es einer Macht der Mitte, die balanciert und ausgleicht und die Kraft des Zentripetalen ist.”

Deutschland, die „Macht der Mitte“

Diese „Macht der Mitte” kann in Europa nach Lage der Dinge nur Deutschland sein. Oder anders gesagt: Wenn es Deutschland angesichts der vielfältigen Krisen in und um Europa nicht gelingt, als geduldiger Vermittler und für alle Seiten vertrauenswuürdige Fü̈hrungsmacht fü̈r das wohlverstandene Gesamtinteresse Europas einzustehen, dann wird auch sonst kein anderes Land und keine andere Institution dazu in der Lage sein: „Die Macht in der Mitte muss das Gesamtinteresse der Union im Auge behalten”, so Herfried Mü̈nkler. „Diese Gemeinwohlorientierung der Zentralmacht ist mö̈glich, weil ihr besonderes Interesse am ehesten mit dem Interesse des Gesamtverbandes kompatibel ist. Diese Kompatibilitä̈t von Eigeninteresse und Gemeinwohl ist die Idealdefinition einer Macht in der Mitte.”

Genau dies meinte der seinerzeitige polnische Außenminister Radosław Sikorski, als er 2011 mit Blick auf die Krise der Eurozone erklä̈rte, als wichtigste europä̈ische Wirtschaftsmacht und größter Nutznießer des Euro stehe Deutschland in der Pflicht, eine Fü̈hrungsrolle bei den notwendigen Reformen in Europa zu ü̈bernehmen und einen wesentlichen Beitrag für den Erhalt der Eurozone zu leisten: „Ich bin wahrscheinlich der erste polnische Außenminister in der Geschichte, der das sagt, aber hier ist es: Ich habe inzwischen weniger Angst vor deutscher Macht als vor deutscher Untä̈tigkeit. Sie sind Europas unverzichtbare Nation geworden. Sie dü̈rfen das Fü̈hren nicht verweigern.” Wenn nach den schrecklichen Erfahrungen Polens mit brutaler deutscher Machtpolitik im 20. Jahrhundert heute ausgerechnet ein polnischer Staatsmann solche Erwartungen an Deutschland formuliert, kann uns das nicht gleichgültig lassen. Sikorski hat einfach Recht.

Was Ostdeutschland beitragen kann

Ob wir es also wollen oder nicht: Deutschland wä̈chst allein schon aufgrund seiner geografischen Lage, seiner Grö̈ße und seines wirtschaftlichen Gewichts sowie angesichts unseres grundlegenden Interesses an europä̈ischer und internationaler Stabilitä̈t in grö̈ßere Verantwortung und Verpflichtung hinein. Wir sollten uns darü̈ber klar sein, dass sich Frieden und Freiheit, Sicherheit und Wohlstand in Europa – und auch hier zu Hause bei uns in Deutschland – nicht einfach von selbst einstellen, sondern in zunehmend schwierigen Zeiten immer wieder gerade auch durch deutsches Engagement aufrecht erhalten werden mü̈ssen. Dies erst recht deshalb, weil die Vereinigten Staaten nicht mehr bereit sind, sich als Europas Ordnungsmacht letzter Instanz zur Verfü̈gung zu stellen. Deutschland als stabilisierende Friedens- und Gestaltungsmacht in der Mitte Europas – diese Aufgabe müssen wir im wohl verstandenen Eigeninteresse, aber genauso im Interesse unserer europä̈ischen Partner aktiv annehmen.

Aber selbst wenn wir diese grundlegende Einsicht akzeptieren, stellt sich die Frage, welchen spezifischen Beitrag eigentlich Ostdeutschland dazu leisten kann, dass Deutschland insgesamt seiner Verantwortung in und fü̈r Europa gerecht wird. Die Frage muss schon deshalb gestellt werden, weil die ostdeutschen Bundeslä̈nder innerhalb des wirtschaftlichen und politischen Schwergewichts Deutschland ganz sicher nicht das Gravitationszentrum bilden – und auch in den kommenden Jahrzehnten schwerlich bilden werden. Gewiss, Deutschlands Hauptstadt und politische Entscheidungszentrale Berlin liegt inzwischen in Ostdeutschland. Insgesamt hat sich die Region im vergangenen Vierteljahrhundert – und ganz besonders im letzten Jahrzehnt – in hervorragender Weise entwickelt. Die Arbeitslosigkeit ist in allen ostdeutschen Bundeslä̈ndern drastisch gesunken, die Abwanderung weitgehend gestoppt, die Infrastruktur wurde runderneuert, die Lebensqualität hat sich umfassend verbessert, und viele moderne ostdeutsche Unternehmen sind mit hervorragenden Produkten und Dienstleistungen mittlerweile national und international absolut wettbewerbsfä̈hig.

Im Osten fehlt es weiter an Großunternehmen

Doch insgesamt leben im Osten nun einmal nur etwa 20 Prozent der Einwohner Deutschlands. Und auch wenn sich das Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Einwohner in Ostdeutschland mittlerweile mehr als verdoppelt hat, so liegt es doch weiterhin um ungefä̈hr ein Drittel unterhalb des Niveaus der alten Länder. Dementsprechend erreicht auch die Steuerkraft der ostdeutschen Lä̈nder nur etwa zwei Drittel des Niveaus der Westlä̈nder. Und an dieser strukturellen Asymmetrie wird sich voraussichtlich so schnell nichts ändern. In der ü̈berwiegend kleinteiligen ostdeutschen Wirtschaftslandschaft mag es manche leistungsstarke Akteure und auch herausragende mittelständische „hidden champions“ geben, die auf den Weltmärkten erfolgreich sind.

Doch aufs Ganze gesehen fehlt es im Osten weiterhin an kapitalstarken industriellen Großunternehmen, an Verwaltungs- und Konzernzentralen mit internationaler Strahlkraft, an industrieller Endfertigung mit hoher Wertschöpfung. Das schlä̈gt sich zwangslä̈ufig nieder auf die Höhe unserer Exportquote, auf die Produktivitä̈t, auf das Einkommensniveau der Beschäftigten sowie auf die Intensitä̈t von Forschung, Entwicklung und Innovation. Bezeichnend ist der markante Umstand, dass bis heute kein einziges der 30 im Deutschen Aktienindex DAX verzeichneten Unternehmen seinen Sitz in Ostdeutschland hat.

Ostdeutschland: Kein eigenständiger Akteur in Europa

Selbstverstä̈ndlich arbeiten die ostdeutschen Bundeslä̈nder hart darauf hin, diese Verhä̈ltnisse nachhaltig zu verbessern. Doch die nackten Tatsachen lassen sich nicht wegdiskutieren. Ostdeutschland mag zwar geografisch in ganz besonderer Weise mitten im wiedervereinigten Europa liegen. Es ist auch unbestreitbar, dass unsere (ost)deutsche Bundeshauptstadt Berlin in den vergangenen Jahren immer stä̈rker in den Fokus der europä̈ischen und internationalen Politik gerü̈ckt ist. Doch in struktureller Hinsicht, also kraft Grö̈ße, Einwohnerzahl und ö̈konomischer Bedeutung, bringt unsere Region offensichtlich nicht das spezifische Gewicht auf die Waage, um aus eigener Kraft als Akteur auf der europä̈ischen Bü̈hne von Bedeutung zu sein. Und im Ü̈brigen gilt in Anlehnung an Henry Kissingers auf die EU gemü̈nzten Ausspruch: „Wen rufe ich an, wenn ich mit Ostdeutschland sprechen will?”

Anders gesagt: Auch in institutioneller Hinsicht fehlen dem fö̈deral organisierten deutschen Osten die Voraussetzungen dafü̈r, als eigenstä̈ndige Kraft in Europa zu agieren.

Gemeinsame Erfahrungen der Sowjetzeit nutzen

Dennoch: Wenn die Diagnose zutrifft, dass Europa angesichts wachsender zentrifugaler Tendenzen an den Rä̈ndern eine starke Mitte benö̈tigt, dann wird Ostdeutschland in den kommenden Jahren und Jahrzehnten trotz fehlender „hard power“ einen wichtigen Beitrag zu Erfolg und Zusammenhalt der Europä̈ischen Union zu leisten haben. Denn Deutschland hat ein vitales Interesse daran, den bevorstehenden Herausforderungen gemeinsam mit starken europä̈ischen Partnern zu begegnen.

Im Norden, im Westen und im Suüden Europas kann Ostdeutschland dazu vermutlich keinen allzu großen Eigenbeitrag leisten. Zu unseren wichtigen europä̈ischen Partnern in Mittel- und Osteuropa dagegen unterhalten die ostdeutschen Bundeslä̈nder, ostdeutsche Unternehmen und zivilgesellschaftliche Akteure exzellente Beziehungen. Diese ergeben sich aus gemeinsamen Erfahrungen, gemeinsamen Herausforderungen und gemeinsamen Grenzen. Zwar wird das Bindemittel der geteilten Erfahrungen aus der Ä̈ra des Staatssozialismus vor 1989 mit dem Ä̈lterwerden der „Erlebnisgenerationen” nach und nach in den Hintergrund treten. Als umso prä̈gender und verbindender erweisen sich aber die geteilten Erfahrungen der zweieinhalb Transformations- und Aufbaujahrzehnte seit dem Ende des Staatssozialismus.

Der „Faktor Ostdeutschland”

Ostdeutsche, Polen, Tschechen, Slowaken, Ungarn, Balten, Rumä̈nen und Bulgaren sind in dieser Hinsicht zweifellos Schicksalsgenossen innerhalb der nach Osten erweiterten Europä̈ischen Union. Und der Umstand, dass das vereinigte Deutschland heute in beträ̈chtlichem Umfang aus Regionen und Menschen besteht, die im vergangenen Vierteljahrhundert denselben Weg zurü̈ckgelegt haben, ist in ganz besonderer Weise geeignet, Vertrauen zu begrü̈nden und Verbindungen zu festigen.

Die Bundesrepublik besitzt also mit dem „Faktor Ostdeutschland” in den gelebten Beziehungen zu unseren ö̈stlichen Nachbarn ein Pfund von erheblichem Gewicht, das man durchaus im Sinne von soft power begreifen und auch nutzen sollte. (...)

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Autor*in
Dietmar Woidke

ist Ministerpräsident von Brandenburg.

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