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Opposition in der Türkei: Was vom Bund gegen Erdogan zu erwarten ist

Sechs türkische Oppositionsparteien haben ein Bündnis gegen das Regime Erdogan geschlossen. Angeführt wird es von der sozialdemokratischen CHP. Viele Türk*innen sehnen sich nach einer starken Opposition, ob das Bündnis sie bieten kann, ist fraglich.
von Kristina Karasu · 21. Februar 2022
In der Türkei rumort es: Protest gegen die Preiserhöhungen im Istanbuler Stadtteil Kadiköy
In der Türkei rumort es: Protest gegen die Preiserhöhungen im Istanbuler Stadtteil Kadiköy

Der türkische Popstar Tarkan hat am Donnerstag eine neues Musikvideo veröffentlicht, das bereits über 18 Millionen Mal auf Youtube angeklickt wurde. Bereits jetzt wird „Geççek“ („Es geht vorbei“) als Hymne des Widerstandes gefeiert: „Alles geht vorbei, auch diese Tortour wird enden, dann werden wir vor Freude tanzen“, singt Tarkan und „Du hast den Bogen überspannt, wir haben’s wirklich satt“. Der Song kann als Antwort auf die Corona-Pandemie verstanden werden, aber Millionen von Fans lesen ihn politisch. Zwischen türkischer Hyperinflation von offiziell 48,7 Prozent, Wirtschaftskrise und nicht enden wollendem politischem Druck sehnen sich viele Türk*innen nach einem Hoffnungsschimmer. Tarkan scheint genau diesen Nerv getroffen zu haben.

Sechs Parteien gegen Erdogan

Tatsächlich ist auch politisch derzeit einiges in der Türkei in Bewegung. Am 11. Februar schlossen sechs Oppositionsparteien ein Bündnis gegen das Erdogan-Regime. Nach ihrem Treffen an einem symbolisch runden Tisch verkündeten sie, das Ein-Mann-Regime beenden und ein gestärktes parlamentarisches System einführen zu wollen. Ihr Ziel sei es „Eine demokratische Türkei aufzubauen, in der die Grundrechte und -freiheiten im Rahmen der Normen des Europarats und der Europäischen Union garantiert sind, in der sich jeder als gleichberechtigter und freier Bürger versteht, in der er seine Gedanken frei äußern und so leben kann, wie er glaubt“, so heißt es in ihrer Erklärung. Am 28. Februar wollen sie ihren Fahrplan zu diesem Ziel zu veröffentlichen.

Angeführt und initiiert wurde dieses Bündnis von Kemal Kilicdaroglu, Chef der republikanischen Volkspartei CHP und Schwesterpartei der SPD. Das deutet darauf hin, dass hier ein in der Türkei „beispielloser Oppositionsblock“ gebildet wird, freut sich der angesehene Journalist Murat Yetkin auf seinem Blog Yetkinreport. Während Erdogan und seine AKP alles dafür tun, die Oppositionsparteien gegeneinander auszuspielen und wechselnde Feindbilder zu schaffen, beweist das Bündnis, dass die Opposition durchaus in der Lage ist, im Namen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zusammenzukommen.

Ein Bündnis ungleicher Partner

Allerdings weckt ein Blick auf die Bündnisparteien Zweifel daran, wie demokratisch, pluralistisch und fortschrittlich dieser Block tatsächlich ausgerichtet ist. Neben der CHP ist die Mitte-Rechts ausgerichtete Iyi-Partei mit im Boot, deren Chefin Meral Aksener zwar als wortgewandte und starke Gegnerin Erdogans gilt, allerdings eine Vergangenheit in der ultranationalistischen MHP vorzuweisen hat. Als Innenministerin tat sie sich in den 1990er Jahren als Hardlinerin in der Kurdenpolitik hervor. Heute plädieren einige ihrer Parteikollegen gar dafür, die kurdennahe HDP zu verbieten.

Weiter im Bunde ist die islamistische Saadet-Partei, die wie Erdogans AKP ihre Wurzeln in der internationalen Milli-Görüs-Bewegung hat. Sie kämpft für die Abschaffung des Laizismus, ist eigentlich gegen einen EU-Beitritt der Türkei und vertritt ultrakonservative Familienwerte. Auch um Anhänger dieser Partei anzulocken, trat Erdogan letztes Jahr aus dem Istanbul-Konvention zum Schutz vor Gewalt an Frauen aus.

Zwei weitere Mitglieder des Oppositionsbündnisses waren einst hochrangige AKP-Funktionäre: Ahmet Davutolgu war zwischen 2014 und 2016 AKP-Chef und Premierminister und gilt als umstrittene Figur. In seiner Amtzeit wurde der Friedensprozess mit der PKK brutal beendet, distanzierte sich seine Partei kaum zu radikalen Islamisten und stieg der Druck auf Regierungsgegner immens. Er strebte ein neoislamisches Reich an und wird von vielen Bürger*innen für die fatale Syrienpolitik seines Landes verantwortlich gemacht.

Die HDP ist nicht dabei

Ex-AKP-Gründer Ali Babacan genießt in Oppositionskreisen etwas höheres Ansehen, koordinierte er doch bis 2009 die EU-Beitrittsverhandlungen der Türkei und war in den Boomjahren des Landes erfolgreicher Finanz- und Wirtschaftsminister. 2019 trat er aus der AKP aus und gründete die wirtschaftsliberale DEVA Partei. Viele Oppositionelle fragen sich allerdings, warum Babacan jahrelang zu dem autoritären Kurs seiner eigenen Partei schwieg; bis heute kann Babacan darauf kaum eine befriedigende Antwort geben.

Nicht im Bunde ist die kurdennahe Partei HDP. Ihr Co-Vorsitzender Mithat Sancar erklärte anschließend im Gespräch mit der BBC, er habe auch keine Einladung erwartet; zu groß sind die ideologischen Differenzen etwa mit der Iyi-Partei. Ohnehin ist die HDP in Kontakt mit zahlreichen kleinen linksgerichten Parteien, um ein drittes Bündnis zu bilden. Allerdings mahnt Sancar: „Jeder Ansatz, der die HDP ignoriert, hat keine Chance, eine echte und starke Demokratie, einen umfassenden und dauerhaften sozialen Frieden in der Türkei aufzubauen.“ Es reiche nicht, sich die HDP mit ein paar netten Worten warm zu halten. Er plädiert dafür, bei den nächsten Präsidentschaftswahlen zumindest einen gemeinsamen Kandidaten aufzustellen. Tatsächlich zeigen ähnliche Entwicklungen etwa in Israel oder Ungarn, dass nur ein umfassendes Oppositionsbündnis über ideologische Grenzen hinweg eine Chance gegen autoritäre Herrschaft hat.

Die Zeiten sind dafür reif, in der türkischen Gesellschaft rumort es. Seit Wochen streiken Arbeiter*innen verschiedenster Fabriken und Firmen im ganzen Land für höhere Löhne, nicht selten mit Erfolg. Am Samstag protestierten im Istanbuler Stadtteil Kadiköy hunderte Menschen gegen die immensen Preiserhöhungen – während Tarkans neues Lied lautstark aus den Boxen tönte.

Autor*in
Kristina Karasu

arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.

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