Olaf Scholz: „Wir arbeiten an einer besseren Europäischen Union.“
Dirk Bleicker
„Versöhnen statt spalten“ – das wollte Johannes Rau. Was bedeutet das Motto des früheren Bundespräsidenten für Sie, wenn Sie auf die Europäische Union blicken?
Für mich ist es Auftrag und Ziel zugleich. Überall in Europa driften die Gesellschaften auseinander. Populistische Parteien befeuern diese Bewegung. Deshalb ist es wichtig, sich an das Motto von Johannes Rau zu erinnern und es mit Leben zu füllen. Es gilt auch für das Verhältnis der Staaten Europas zueinander. Auch hier geht es darum, zusammenzuführen und dafür zu sorgen, dass es gemeinsam vorangeht.
Zu Beginn der Corona-Krise drohte die EU in alte Nationalismen zurückzufallen. Ende vergangenen Jahres beschloss sie das größte gemeinsame Wiederaufbauprogramm ihrer Geschichte. Wie ist es zu diesem Wandel gekommen?
2020 war für die Europäische Union ein sehr wichtiges Jahr, mit einer weitreichenden Veränderung. Auf diese große Krise haben die Mitgliedstaaten anders reagiert als in der Vergangenheit, nämlich gemeinsam. Für mich war es wichtig, eine Reaktion auf die Corona-Krise herbeizuführen, die solidarisch ist und die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie in allen EU-Staaten begrenzt. Daran haben wir auch in Deutschland ein ureigenes Interesse, weil die Volkswirtschaften in Europa eng miteinander verflochten sind. Deshalb haben wir uns sehr früh entschieden, gemeinsam mit Frankreich ein Wiederaufbauprogramm vorzuschlagen, das auch direkte Zuschüsse für Konjunkturhilfen und Zukunftsinvestitionen enthält. Möglich ist das nur geworden, weil die EU die Möglichkeit erhalten hat, im großen Umfang eigene Kredite aufzunehmen. Das hat es bis dahin nicht gegeben. Der größte Fortschritt besteht darin, dass die EU zur Finanzierung dieser Kredite erstmals eigene Einnahmen erzielen wird.
Was war diesmal anders als in der Finanzkrise 2008?
Deutschland hat nicht mit dem erhobenen Zeigefinger agiert, sondern mit viel Tatkraft eine gemeinsame europäische Antwort formuliert. Das hat sehr viel damit zu tun, dass wir Sozialdemokraten ganz entscheidend Einfluss genommen haben. In der Bundesregierung haben wir dafür gesorgt, dass Deutschland in dieser Frage in der EU vorangeht.
Wird das die EU stärken?
Davon bin ich überzeugt. Das war ein richtig großer Schritt nach vorn, dessen Ausmaß wir vielleicht erst in einigen Jahren ermessen können. Die EU erlebt möglicherweise gerade ihren „Hamiltonian Moment“: Alexander Hamilton war nach Gründung der USA der erste amerikanische Finanzminister und hat der Bundesregierung maßgeblich das Recht verschafft, eigene Steuern zu erheben und so dazu beigetragen, dass aus dem wackeligen Staatenbund von 13 ehemaligen Kolonien echte „Vereinigte Staaten von Amerika“ werden konnten.
Parallel dazu ist mit Großbritannien erstmals ein EU-Mitglied aus der Union ausgetreten.
Der Austritt Großbritanniens ist sehr schade, keine Frage. Er verändert die Balance in Europa. Die Bedeutung Deutschlands mit seinen mehr als 80 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern und seiner starken Volkswirtschaft im Herzen des Kontinents wächst damit automatisch, ob wir das wollen oder nicht. Aus dieser Bedeutung wächst eine neue Verantwortung, die wir jetzt ausfüllen wollen.
Die Aufgaben bleiben auch groß. Die Regierungen in Polen und Ungarn stellen öffentlich die Rechtsstaatlichkeit als Grundlage der EU infrage. Wie können da – ganz im Sinne von Johannes Rau – Gräben überwunden werden?
Wichtig ist, dass wir Dinge offen an- und aussprechen. Das passiert immer häufiger. Ein gutes Beispiel dafür ist die Debatte über das historische Wiederaufbauprogramm, das wir beschlossen haben. Alle Konflikte, die dabei entstanden sind, unter anderem über die Bedeutung der Rechtstaatlichkeit in Europa, haben wir offen ausgetragen und am Ende gelöst. Das ist ein Fortschritt.
Nach wie vor unbeantwortet ist die Frage nach einer gemeinsamen Flüchtlingspolitik. Wo wollen Sie da als Bundeskanzler Impulse setzen?
Das Thema ist mir sehr wichtig. In meinem Buch „Hoffnungsland“ habe ich mich vor vier Jahren ausführlich damit beschäftigt. Es geht nicht darum, mit dem Finger auf andere zu zeigen. Was wir brauchen, ist ein tieferes Verständnis für die gemeinsamen Herausforderungen, um daraus gemeinsame europäische Ziele zu entwickeln. Wir haben genauso eine Verpflichtung zum Schutz von Flüchtlingen, wie wir eine Verpflichtung zum Schutz unserer Außengrenzen haben. Und wir haben eine Verpflichtung den Ländern gegenüber, die nicht zur EU gehören und Flüchtlinge aus ihren Nachbarländern aufnehmen. Klar ist, dass die Herausforderung uns noch lange begleiten wird. Davor dürfen wir uns aber nicht drücken.
Neben dem solidarischen Europa betonen Sie stets das souveräne Europa. Was erwarten Sie im Verhältnis zu den USA unter dem neuen Präsidenten Joe Biden?
Die Wahl von Joe Biden ist eine große Erleichterung gewesen, das sage ich ganz offen. Weitere vier Jahre mit Donald Trump hätten die internationalen Beziehungen schwer belastet. Nun besteht die Chance, dass wir ein neues Kapitel der transatlantischen Beziehungen aufschlagen. Die USA haben nationale Interessen. Die EU hat ihre Interessen. Nicht alle Gegensätze werden sich wundersam in Luft auflösen. Was uns aber verbindet, sind unsere gemeinsamen Traditionen und Überzeugungen mit Blick auf Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Diese Werte werden mit Joe Biden wieder gestärkt, und das erleichtert es, zu gemeinsamen Lösungen zu kommen. Da bin ich ganz sicher.
Die deutsche Sozialdemokratie hat schon auf dem Heidelberger Parteitag 1925 die Vision von den „Vereinigten Staaten von Europa“ formuliert. Ist sie heute noch aktuell?
Da nutze ich gerne eine Formulierung aus den USA: Wir arbeiten an einer „more perfect union“ – an einer besseren Europäischen Union.
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Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.