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Ohne Solidarität kann Europa zugrunde gehen – in Erinnerung an Ágnes Heller

Am Wochenende ist die ungarische Philosophin Ágnes Heller gestorben. In Erinnerung an sie veröffentlichen wir an dieser Stelle noch einmal einen Text, den sie 2015 für den „vorwärts“ geschrieben hat. Für ein Europa der Solidarität und gegen Nationalismus.
von Ágnes Heller · 22. Juli 2019
Die ungarische Philosophin Ágnes Heller ist im Alter von 90 Jahren gestorben.
Die ungarische Philosophin Ágnes Heller ist im Alter von 90 Jahren gestorben.

Europa steht mit seiner Geschichte vor einem weltanschaulichen Paradox: Universalismus auf der einen, Nationalismus auf der anderen Seite.

Die EZ als neue Seite in der Geschichte Europas

Die Idee des Universalismus, der allgemeinen Menschenrechte, wurde im 18. Jahrhundert in Europa geboren. Doch zeitgleich erblühte in Frankreich die allumfassende Liebe für „la Nation“. In Deutschland hielt alsbald der Philosoph Johann Gottlieb Fichte Reden an die Deutsche Nation – eine Nation, die noch gar nicht existierte. Seitdem ist die nationalistische Ideologie Geburtshelferin bei der Entstehung neuer Nationalstaaten.

Doch was verdanken wir den europäischen Nationalstaaten? Das massenhafte Töten von Millionen von Europäern – von Völkern außerhalb Europas ganz zu schweigen. Die Europäische Union ist ein bedeutender Versuch, eine neue ­Seite in der Geschichte Europas aufzuschlagen. Sie basiert stärker auf der europäischen Tradition des Universalismus als auf der des Nationalismus.

Europa war lange keine Erzählung von Frieden

Heute aber scheint der Nationalismus wieder die Oberhand zu gewinnen. Deswegen müssen wir auf die Geschichte verweisen und darauf, wohin Nationalismus führen kann: Gewalt, Unterdrückung, Diktaturen, Krieg. Europa  war lange keine Erzählung von Frieden und Gemeinschaft – auch wenn dies heute die Werte der Europäischen ­Union sind. Ohne Solidarität kann Europa aber zugrunde gehen. Nur den nationalstaatlichen Instinkten zu folgen, ist gefährlich. Die Europäer sollten nicht nur, sie müssen zusammenhalten.

Demokratie war die Ausnahme in Europa, nicht die Regel. Europa verstand sich als Kontinent der „weißen Rasse“. Europa grüßte Diktatoren und betete Tyrannen an. Solidarität mit den Unterdrückten, mit den Verfolgten war selten. Man kann diese schlechte Tradition nur dann überwinden, wenn man sie bewältigt und Geschichte nicht schönt.

Doch Zynismus und Nihilismus sind weit verbreitet: Europäer haben genug von leeren Versprechen und Utopien. Aber der Nihilismus ist eine schlechte Antwort auf Enttäuschung, er ist ein Bekenntnis der Ohnmacht. Nur eine Überzeugung, die die realen Möglichkeiten zur Kenntnis nimmt und sich den Werten von Frieden, Solidarität und  Freiheit verpflichtet fühlt, hat Macht, den historischen Kompromiss zwischen Universalismus und Nationalstaaten zu fördern und Europa eine gute Zukunft zu geben. 

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Ágnes Heller

Ágnes Heller (1929-2019) war Philosophin. Die Ungarin jüdischer Herkunft hat in Budapest den Holocaust überlebt und war bis zu ihrem Tod eine der profiliertesten Kritikerinnen des Orbán-Regimes.

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