„Ohne Kompromissbereitschaft Deutschlands wird die EU nicht funktionieren.“
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Was ist für Sie typisch europäisch?
Das Schöne und Typische an Europa ist doch seine Vielfalt! Wir wollen alle ohne Angst verschieden sein. Genau darum geht es!
Ein Großteil der Deutschen hält die Mitgliedschaft in der EU für eine gute Sache. Gleichzeitig wächst die Anzahl derer, die mit der Entwicklung der EU unzufrieden sind. Wie bewerten Sie das?
Leider gibt es eine grundsätzliche Verdrossenheit der Politik und der Demokratie gegenüber. Das macht sich auch bei der Bewertung der Europäischen Union bemerkbar. Die EU ist in den vergangenen Jahren durch schwere Krisen gegangen, die zum Teil noch nicht beendet sind. In Deutschland ist zwar im Zuge der Finanzmarkt- und anschließenden Wirtschaftskrise die Arbeitslosigkeit nicht gestiegen und die Wirtschaft nicht eingebrochen, aber es ist von Marktradikalen und Konservativen der Eindruck erweckt worden, als hätten wir mit den Problemen unserer Partner in der EU nichts zu schaffen. Da ist im Verhältnis untereinander viel Vertrauen verloren gegangen.
Wie kann die Politik das reparieren?
In einer Zeit, die neue Bewährungsproben bereithält, ist das nicht leicht. Die Migrationsfrage ist nicht beantwortet, es gibt gewaltsame Konflikte in unserer europäischen Nachbarschaft und über allem schwebt der Brexit. Jahrzehntelange Gewissheiten sind abhandengekommen, etwa wenn ich an die transatlantischen Beziehungen zu den USA denke. Wichtig ist, dass wir alle fair mit Europa umgehen. In einem ersten Schritt müssen wir daher ehrlicher über Europa reden. In den vergangenen Jahren hat die EU immer für alles herhalten müssen, das nicht funktioniert und schlecht lief. Dann war „Brüssel“ schuld. Wir müssen viel deutlicher machen: Entscheidungen in der EU brauchen genauso parlamentarische Mehrheiten wie in jedem Nationalstaat. Wer in Europa so wie ich für eine progressive Politik arbeitet, ist zurzeit nahezu überall in der Minderheit – in der Kommission, im Rat und im Europäischen Parlament. Das lässt sich aber doch ändern, wenn wir nicht jammern, sondern kämpfen!
Im Koalitionsvertrag versprechen SPD, CDU und CSU „einen neuen Aufbruch für Europa“. Warum ist davon bisher wenig zu spüren?
Ich bin mit dem bisher Erreichten nicht zufrieden. Viele SPD-Mitglieder haben dem Koalitionsvertrag mit der Union zugestimmt, weil Europa darin eine herausragende Stellung einnimmt. Dass sich nach gut einem Jahr zu wenig getan hat, liegt aus meiner Sicht vor allem daran, dass der Dialog zwischen der Kanzlerin und dem französischen Präsidenten nicht funktioniert. Emmanuel Macron bevorzugt Samba, Angela Merkel langsamen Walzer. Beim gemeinsamen Tanz kommt dieses ungleiche Paar dann schnell aus dem Takt. Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist die EU in erster Linie eine Wertegemeinschaft und nicht ein Binnenmarkt. Das leitet unsere Politik, etwa im Umgang mit Regierungen, die rechtsstaatliche Prinzipien verletzen. In Sachen Demokratie darf es keine politischen Rabatte geben. Da vermisse ich von CDU/CSU und EVP eine klare Positionierung. Die haben Viktor Orban hofiert und verteidigt, er war jahrelang Vizepräsident der konservativen Parteifamilie.
Ungarn und Polen sind in der EU eher schwierige Partner. Trotzdem ist dort die Europa-Begeisterung gerade bei jungen Menschen groß. Wie können die EU und Deutschland sie unterstützen?
Wir sollten nicht den Fehler machen, ein Land mit seiner Regierung gleichzusetzen. Gerade Polen macht mir Mut, da es dort eine nach wie vor kritische, demokratisch gesinnte und proeuropäische Zivilgesellschaft gibt. Als Bundesregierung müssen wir immer wieder deutlich machen: wir stehen an Eurer Seite. Unsere europapolitische Arbeit ist nicht nur ausgerichtet auf Regierungs- und Parlamentsbeziehungen. Wir haben im Auswärtigen Amt in den vergangenen Jahren besonders die Kontakte in die Zivilgesellschaft anderer europäischer Staaten ausgebaut. Ich schlage vor, dass die EU ein eigenes Programm auflegt, um denjenigen zu helfen, die in ihren eigenen Ländern unter Druck geraten. Wir stehen in der Pflicht, unsere Stimme immer besonders dann zu erheben, wenn Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gefährdet sind.
Der frühere polnische Außenminister Jaroslaw Sikorski hat vor einigen Jahren gesagt, er fürchte weniger Deutschlands Macht als Deutschlands Untätigkeit in Europa. Hält sich Deutschland zu sehr raus?
Deutschland ist europapolitisch alles andere als untätig. Allerdings vermisse ich bisweilen die Bereitschaft, sich in das Denken und die historischen Erfahrungen unserer Nachbarn und Partner hineinzuversetzen. Beispielsweise ist in den baltischen Staaten und Polen die Angst vor russischer Aggression nach wie vor groß. Die Skepsis gegenüber exklusiven deutsch-russischen Beziehungen kann ich deshalb gut nachvollziehen. Unserer Forderung „Europe united“ müssen konkrete Handlungen folgen. Ohne Kompromissbereitschaft und Kompromissfähigkeit Deutschlands wird die EU nicht funktionieren. Wir müssen mit gutem Beispiel vorangehen. Derzeit sind wir nun wirklich nicht der Musterschüler Europas.
Gilt das auch für das Sonderverhältnis Deutschlands zu Frankreich?
Ich trete aus Überzeugung für eine besonders enge deutsch-französische Zusammenarbeit ein. Dabei ist klar, dass zwei Staaten allein die EU nicht nach vorne bringen können. In guten Zeiten ist es uns aber gelungen, kluge Kompromisse zu schmieden, die Europa gestärkt und geeint haben. Die Qualität unserer Beziehung liegt eben nicht darin, dass beide Länder immer von Anfang an einer Meinung sind, sondern dass wir uns aus unterschiedlichen Richtungen aufeinander zu bewegen. Ohne Kompromissbereitschaft auf beiden Seiten geht es da nicht. Am Ende dient das der gesamten EU. Die deutsch-französische Freundschaft erhebt keinen Exklusivitätsanspruch. Wir arbeiten auch mit anderen Staaten in der EU eng und vertrauensvoll zusammen. Zum Beispiel werden wir unsere EU-Ratspräsidentschaft nächstes Jahr als Trio gestalten – gemeinsam mit Portugal und Slowenien, die nach uns den EU-Vorsitz haben.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.