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Notstandsregierung in Israel: Was vom Bündnis zwischen Netanyahu und Gantz zu erwarten ist

Nach der dritten Parlamentswahl innerhalb eines Jahres scheint in Israel eine neue Regierung zu stehen. Was von ihr zu erwarten ist und ob ob sie hält, sagt Paul Pasch, Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Israel.
von Kai Doering · 24. April 2020
Von Gegnern zu Partnern: Benny Gantz und Benjamin Netanyahu wollen künftig gemeinsam Israel regieren.
Von Gegnern zu Partnern: Benny Gantz und Benjamin Netanyahu wollen künftig gemeinsam Israel regieren.

Für viele überraschend haben sich Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu und sein Widersacher Benny Gantz auf die Bildung einer gemeinsamen Regierung geeinigt. Wie ist es dazu gekommen?

Israel befindet sich seit Anfang 2019 in einer tiefen politischen Krise. Nach den vorgezogenen Parlamentswahlen am 9. April 2019 war es weder dem amtierenden Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu noch seinem Herausforderer, dem ehemaligen Generalstabschef Benny Gantz vom Wahlbündnis Blau-Weiß, gelungen, eine neue Regierung zu bilden. Deshalb wurden Neuwahlen notwendig. Die Pattsituation zwischen dem rechten und dem linken Lager hat sich auch nach den Wahlen am 17. September 2019 und am 2. März 2020 nicht wesentlich geändert. Keinem der Spitzenkandidaten gelang die Bildung einer Regierung. Die Krise ermöglichte es Netanyahu, genug Druck auf seinen Herausforderer aufzubauen, um diesen trotz gegenteiliger Wahlversprechen in eine Regierung des nationalen Notstandes zu zwingen. Für die – aus seiner Sicht notwendige – Stabilität, aber auch die Aussicht auf einen beträchtlichen Teil der Gestaltungsmacht nahm Gantz den Bruch mit einem großen Teil seiner politischen Mitstreiter in Kauf.

Benjamin Netanyahu galt bereits mehrfach als politisch tot. Hat er sich durchgesetzt?

Ministerpräsident Netanyahu erscheint als Sieger. Er hat seinen Herausforderer Gantz – vorerst – zu seinem Stellvertreter gemacht und dessen Wahlbündnis zerschlagen. Als neuer alter Regierungschef hält er auch die besten Karten in den Händen, um möglichst unbeschadet aus dem gegen ihn laufenden Korruptionsprozess rauszukommen. Außerdem hat er die Weichen gestellt, um das Kernstück von Präsident Trumps sogenanntem „Deal of the Century“ umzusetzen – die völkerrechtswidrige Annexion von weiten Teilen des besetzten Westjordanlandes.

In den drei Wahlkämpfen war der Ton zwischen Gantz und Netanyahu rau. Kann ein Regierungsbündnis funktionieren?

Netanjahu kämpfte mit harten Bandagen gegen seinen Herausforderer. Er und seine Anhänger stellten den ehemaligen Stabschef als schwach, unartikuliert und möglicherweise korrupt dar. Das Verhältnis der beiden basiert auf tiefsitzendem Misstrauen. Dennoch hat sich Gantz in die Pflicht nehmen lassen. Die Regierung des nationalen Notstands wurde nach Aussage beider Koalitionspartner gebildet, um in den kommenden sechs Monaten die Herausforderungen der Covid-19-Pandemie zu bewältigen. Das 14-seitige Koalitionsdokument beschreibt nicht nur den Mechanismus für die nächsten drei Regierungsjahre, sondern gibt beiden Kontrahenten auch Garantien, um zu verhindern, dass der jeweils andere die Zügel der Macht gänzlich an sich reißen kann. Dazu zählen Maßnahmen, die verhindern sollen, dass z.B. Netanyahu eine weitere Wahl anberaumt oder dass Gantz die Funktion des Regierungschefs vorzeitig übernimmt, falls der Oberste Gerichtshof die bei ihm anhängigen Anträge, dem unter Anklage stehenden Netanyahu die Amtsausübung zu untersagen, positiv bescheiden sollte.

Seit eineinhalb Jahren führt Netanyahu eine Übergangsregierung, die nur eingeschränkt handlungsfähig ist. Nach drei turbulenten Wahlkämpfen ist die politische Situation im Lande polarisiert. Eine große Koalition könnte Israel die notwendige Stabilität bringen, um den Herausforderungen der Bewältigung der Corona-Krise und dem in der Zwischenzeit entstandenen wirtschaftlichen Notstand, in dem fast ein Viertel der Erwerbstätigen – mehr als eine Million Menschen – arbeitslos geworden sind, zu begegnen.

Nach der Hälfte der Legislatur soll Gantz Netanyahu als Ministerpräsident ablösen. Glauben Sie, dass dieses Modell aufgeht?

Laut der Vereinbarung soll Ministerpräsident Benjamin Netanyahu bis Oktober 2021 im Amt bleiben, obwohl er sich ab dem 24. Mai wegen Betrug, Bestechung und Amtsmissbrauch in drei Fällen vor dem Jerusalemer Bezirksgericht verantworten muss. In der Vergangenheit hatte Netanyahu nach Möglichkeiten gesucht, Immunität im Amt zu erhalten. Diesen Bestrebungen schiebt der Koalitionsvertrag einen Riegel vor. Der Koalitionsvertrag sieht vor, dass Gantz in 18 Monaten das Amt übernehmen und Netanyahu zu seinem Stellvertreter wird. Bis dahin wird Gantz Verteidigungsminister und stellvertretender Regierungschef.

Mit der Koalitionsvereinbarung mit Blau-Weiß hat sich Netanyahu eine reale Option zur Regierungsbildung mit wenigstens 72 Mandaten geschaffen. Allerdings sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass das Bündnis des Likud mit den nationalistischen und religiösen Parteien 59 der 120 Knesset-Abgeordneten stellt. Die Möglichkeit, dass sich in den kommenden Wochen noch zwei Überläufer finden, ist nicht auszuschließen. Benny Gantz, seit langer Zeit der einzig ernstzunehmende Kontrahent Netanyahus, hat durch seine 180-Grad-Wende hin zur Notstandsregierung entgegen seiner Wahlversprechen, politisch enormen Schaden genommen. Sollte der verschlagene Netanyahu am Ende Dank des aktuellen Manövers das Mandat zur Regierungsbildung bekommen, um dann doch auf seine ehemaligen rechtskonservativ-religiösen Koalitionspartner zurückzugreifen, hätte Gantz seine politische Glaubwürdigkeit vollständig verspielt.

Auch die Arbeiterpartei „Avoda“ will in die Regierung eintreten, obwohl sie nur mit drei Abgeordneten in der Knesset vertreten ist. Wie bewerten Sie das?

Die einst mächtige Israelische Arbeitspartei Avoda, die in der er bis April 2019 tagenden Knesset noch mit 18 Abgeordneten vertreten war, ist tatsächlich in der jetzigen Knesset nur noch mit drei Abgeordneten vertreten. Die verheerende Wahlniederlage ist in erster Linie auf die Wahlwanderung zu Blau-Weiß zurückzuführen. Um das Überleben der Partei zu sichern, ist die Parteiführung nun bereit, sich als Juniorpartner mit der 15-köpfigen Fraktion von Blau-Weiß zu verbünden und entgegen aller Wahlversprechen der von Netanyahu angeführten Regierung beizutreten. Die Avoda soll aus dem Kontingent von Blau-Weiß das Wirtschafts- und das Sozialministerium erhalten. Die Möglichkeit in diesen beiden Ministerien sozialdemokratische Politik zu verfolgen und den Bürgern Israels im Sinne von sozialer Gerechtigkeit zu dienen, rechtfertigt in den Augen des Parteivorsitzenden Amir Peretz nicht nur den Regierungsbeitritt sondern stellt nach seiner Darstellung die einzige Möglichkeit dar, die Partei von ihrem historischen Wahldebakel zu rehabilitieren und sie strategisch neu zu positionieren. Dieser Schritt ist sowohl in der Fraktion als auch in der Partei umstritten. Während die Befürworter mit der Notwendigkeit in der Corona-Notstandsregierung, vor allem im sozial- und wirtschaftspolitischen Bereich, Einfluss zu nehmen, argumentieren, kontern die Gegner mit dem Argument des Verrats an den eigenen Werten und allen Wahlversprechen. Hinzu kommt die Besorgnis, Teilhaber zu werden an einer Regierung, die Teile der besetzten Westbank zu annektieren plant. Am 26. April muss der 4000-köpfige Parteitag in einer digitalen Abstimmung über den Vorschlag des Parteivorsitzenden abstimmen. Bisher ist die Parteibasis traditionell den Vorschlägen der Parteiführung gefolgt. Der Regierungsbeitritt der Avoda würde einen krassen Paradigmenwechsel in der Friedens- und Sicherheitspolitik der Partei darstellen. Die Unterstützung der Annektierung der jüdischen Siedlungsblöcke und des Jordantals würde eine Abwendung von dem vom ehemaligen Parteivorsitzenden Itzhak Rabin initiierten Osloer-Friedensprozess bedeuten.

Was bedeute diese „große Koalition“ insgesamt für den Friedensprozess mit den Palästinensern?

Israel bereitet sich darauf vor, Teile der Westbank zu annektieren. Der Koalitionsvertrag sieht vor, dass Israel im Einklang mit dem Nahost-Friedensplan von US-Präsident Donald Trump das Jordantal annektiert und die israelische Souveränität auf die jüdischen Siedlungen im Westjordanland ausdehnt. Dies wäre eine Paradigmenwechsel und steht im Widerspruch zur internationalen Rechtsauffassung, die das Territorium als illegal besetzt ansieht. Das Koalitionsabkommen erlaubt Netanyahu jedoch, die Annexion von Teilen des Westjordanlandes ab dem 1. Juli zur Abstimmung in der Regierung und – falls er das will – in der Knesset zu stellen, sofern die Vereinigten Staaten den Schritt weiterhin unterstützen und die regionale Stabilität und die „Beibehaltung bestehender Abkommen“ mit Ägypten und Jordanien nicht gefährdet würden. Allein der Verweis auf die regionale Stabilität eröffnet noch die Möglichkeit, dass die Regierung womöglich von ihrem Vorhaben absieht, wäre doch mit vehementem arabischen, vor allem jordanischen Protest zu rechnen. Es ist jedoch fraglich, ob sich Netanyahu, der auch bislang nicht als jemand aufgefallen war, der den politischen Sensibilitäten in der arabischen Welt allzu viel Bedeutung zumaß, davon abhalten ließe. Zumal sich das einzigartige Window-of-Opportunity wieder zu schließen droht, falls es im November in Washington zu einem Regierungswechsel kommt. Die aktuelle Pandemie eröffnet zudem die Möglichkeit im Windschatten abgelenkter internationaler Aufmerksamkeit Fakten zu schaffen.

Die palästinensische Führung lehnt die Einverleibung dessen, was sie als Gebiet ihres künftigen Staates sieht, verständlicherweise vehement ab. Sie droht für diesen Fall der Annexion mit der Aufkündigung aller bestehenden Vereinbarungen. Der Friedensprozess wäre damit auf den Stand vor den Osloer Verhandlungen zurückgeworfen. Politischen Auftrieb erhielten damit diejenigen Radikalen, die diesen Prozess seit jeher ablehnen, weil sie den jüdischen Nationalstaat politisch und militärisch vernichten wollen. Die Annexion würde Israels langfristige Sicherheit in der Region also untergraben. Sollte die Besatzung – und diesmal ohne Perspektive auf eine palästinensischer Staatlichkeit - fortgeschrieben werden, würde Israel seine demokratische Verfasstheit in Frage stellen. Eine Einstaatenlösung aber mit Bürgerrechten für alle würde das Ende des jüdischen Nationalstaates bedeuten. Netanyahu beerdigt damit nicht nur willentlich Oslo, er nimmt auch in Kauf, dem demokratischen Zionismus des Staatsgründers David Ben Gurion den Todesstoß zu versetzen.

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Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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