Neuwahlen: Warum Bulgarien israelische Verhältnisse drohen
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Über Boiko Borissov ist bekannt, dass er nicht gut verlieren kann. Der Mann, der Bulgarien den größten Teil des letzten Jahrzehnts regiert hat, schmiss in dieser Zeit zweimal sein Amt hin. Immer noch legendär ist in Sofia seine unverhohlene Frustration über ein verlorenes Charity-Match gegen Ex-Tennisstar Boris Becker 2010.
In der aktuellen bulgarischen Politik ist jedoch derzeit nicht klar: Hat Ex-Ministerpräsident Borissov das Match verloren? Oder nur einen Satz? Fest steht, dass ein neuer politischer Spieler auf den Platz getreten ist: Slavi Trifonov – Sänger, Produzent, Moderator und eine der populärsten Figuren der bulgarischen Medienszene. Seine erst im vergangenen Jahr gegründete Partei „Es gibt so ein Volk“ wurde in den Parlamentswahlen im April aus dem Stand zweite Kraft in Bulgarien.
Es fehlen die Koalitionspartner
Borissovs konservative GERB blieb zwar die stärkste Partei – stand aber auf einmal isoliert da: Der vormalige Koalitionspartner hatte den Wiedereinzug ins Parlament verpasst und alle anderen Parteien, die rechnerisch als Koalitionspartner getaugt hätten, wandten sich demonstrativ ab.
Aber auch Trifonov gab das Mandat zur Regierungsbildung zurück. Seine Abgrenzung gegenüber dem gesamten „System“ und seinen Parteien machte nicht nur ein Zusammengehen mit Borissovs GERB unmöglich, sondern auch beinahe jede weitere Koalition. Diese radikale Opposition gegenüber allen etablierten Akteuren kommt bei vielen bulgarischen Wählern gut an, die eine klare politische Wende fordern.
Weiter so oder radikaler Schnitt
Das Misstrauen gegenüber obskuren Hinterzimmerdeals zwischen Parteien ist in Bulgarien groß. Zu lange und nicht ganz zu Unrecht herrschte das Gefühl, dass Parteieliten sich Macht und Einfluss in schönster Eintracht untereinander aufteilten – zum Schaden der Bürger*innen und des Landes. An einen sukzessiven Wandel zu einem anderen politischen System glaubt niemand mehr – es gibt nur das „Weiter-so“ oder den radikalen Schnitt.
Um seine Wähler*innen zu mobilisieren bleibt Trifonov daher kaum ein anderer Weg als die vollständige Abgrenzung. Damit könnte es ihm sogar gelingen, bei den Neuwahlen am 11. Juli stärkste Kraft zu werden. Nur: Eine regierungsfähige Mehrheit für die „Es gibt so ein Volk“ ist nicht absehbar, auch nicht in einem potentiellen Bündnis mit den beiden anderen Parteien, die – getragen von den massiven regierungskritischen Protesten des letzten Sommers – neu ins Parlament eingezogen sind.
Sorge vor wachsendem Einfluss Moskaus
Eine weitere Schwäche von „Es gibt so ein Volk“: Trifonov, die zentrale Person der Bewegung, stellt sich selbst nicht wieder zur Wahl. Schon nach der April-Wahl wirkte er nicht vorbereitet auf seinen durchschlagenden Erfolg und wenig geneigt, eine politische Position zu übernehmen. Trifonov möchte zu seiner Karriere ins Showgeschäft zurück. Auch viele der anderen prominenten Figuren, die für seine Partei werben, stehen nicht für politische Ämter zur Verfügung. Die Bulgaren sind es prinzipiell gewohnt, dass nicht ganz klar ist, was man nach der Wahl bekommt, denn politische Programme stehen selten im Mittelpunkt. Dass sie aber nun nicht einmal wissen, wen sie bekommen, treibt die Logik der Protestwahl auf die Spitze: Alles und jeder ist besser als das Bisherige.
Und was macht Borissov? Nach einer Zeit beleidigter Seitenhiebe auf den neuen politischen Gegner, gekoppelt mit der Herausforderung, der solle doch nun mal zeigen, dass er es besser könne, konzentriert sich der ehemalige Ministerpräsident nun vorrangig darauf, seinen eigenen Laden, also seine Kernwählerschaft zusammenzuhalten. GERB sei die Partei gegen Krise und Instabilität, Trifonov ein politischer Feigling und Präsident Rumen Radev ein Diktator und Kreml-Freund. Damit aktiviert Borissov die Ängste der mehrheitlich pro-europäisch eingestellten Bulgaren vor einem verstärkten politischen Einfluss Russlands.
Ein umstrittener Präsident macht Politik
Überhaupt: Rumen Radev. Er ist neben Trifonov Borissovs nächstes Problem und langfristig vielleicht sogar sein größeres. Nach der gescheiterten Kabinettsbildung fiel es Radev zu, ein überparteiliches Expertenkabinett zu berufen, das für die Organisation der Neuwahlen zuständig ist. Der von ihm berufene Ministerpräsident Stefan Yanev hat – ebenso wie Präsident Radev – eine militärische Laufbahn hinter sich. Obgleich Yanev die Regierung führt, ist es Radev, der aktuell als die stärkste politische Kraft im Land gilt.
Radev hat seine Rolle als Präsident nie nur zeremoniell verstanden. Seit er 2016 die Präsidentschaft gegen die GERB-Konkurrentin gewann, ist er zum schärfsten Kritiker der Regierung Borissovs geworden und war im Sommer 2020 eine der Leitfiguren der Proteste. Seine Amtsauslegung hat in der Vergangenheit auch Kritik provoziert – er überschreite die Grenzen seines Amtes, welches – ähnlich wie in Deutschland – überparteilich und repräsentativ angelegt ist. Anders als in Deutschland ist der Präsident jedoch direkt vom Volk gewählt und besitzt damit die höchste demokratische Legitimation.
Missmanagement, Korruption und Vetternwirtschaft
Es muss wohl auch als Schwäche der parlamentarischen Opposition gelten, dass sowohl Trifonov als auch Radev ins Zentrum der Politik gerückt sind: Keine der hier vertretenen Parteien konnte die Wechselstimmung aufnehmen, die das Land erfasst hat. Während Trifonov mit seiner Rolle fremdelt, macht Radevs Expertenregierung aus ihrem Willen zum Wandel keinen Hehl: Schon in den ersten Wochen wurden dutzende Geschichten von Missmanagement, Korruption und Vetternwirtschaft offengelegt, an verschiedenen neuralen Stellen des Verwaltungsapparats wurden GERB-Vertraute ausgetauscht, diverse Projekte der Vorgängerregierung gestoppt und überprüft.
Auch gegen Borissov persönlich sind in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss schwere Anschuldigungen erhoben worden. Rückenwind hat Radev von unerwarteter Seite bekommen. Unter dem sogenannten Magnitsky Act haben die USA einigermaßen überraschend Sanktionen gegen drei Bulgaren erlassen – aufgrund von Korruption. Alle drei sind wohlbekannt und werden mit der Borissov-Regierung in Verbindung gebracht.
Dennoch bleibt die Frage offen, wer in Zukunft Bulgarien regieren soll. Trifonov will nicht, Radev darf nicht. Dies ist Borissovs stärkster Trumpf. Sollte im Juli ein weiteres Mal die Regierungsbildung scheitern, könnte die Sehnsucht nach Stabilität – und sei es um den Preis von Borissovs Rückkehr – den Wunsch nach Wandel doch noch einmal überflügeln. Ein Sieg im Tie-Break sozusagen.
Dieser Text erschien zuerst bei ipg-journal.de
Dr. Helene Kortländer leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bulgarien. Zuvor war sie für die FES in Berlin und Israel tätig.