Neuwahl in Istanbul markiert Richtungswechsel in der Türkei
„Wir wollten auch wählen gehen aber sie haben uns nicht gelassen“ – das twitterten gestern zahlreiche Menschen aus Ankara und Antalya, aus Konya und Canakkale. Denn die Neuwahl in Istanbul war mehr als eine Kommunalwahl. Sie war eine Wahl, die das Schicksal der ganzen Türkei bestimmen dürfte. Ekrem İmamoğlu, noch vor ein paar Monaten der gänzlich unbekannte Bezirksbürgermeister eines Istanbuler Vorortes, hat oppsitionelle Türken im ganzen Land elektirisert. Ihm gelang es die Hoffnung zu verbreiten, dass es eine Alternative zum konfrontativen, autoritären Kurs Erdoğans gibt. „Wir sind gekommen, um Frieden zu schließen und uns miteinander zu versöhnen“ rief İmamoğlu am Abend vor zehntausenden jubelnden Anhänger in Istanbul.
Deutlicher Vorsprung von neun Prozent
Während İmamoğlu die ursprüngliche Kommunalwahl nur mit einem hauchdünnen Vorsprung von 0,16 Prozentpunkten gewann, lag der Abstand nun bei über neun Prozent gegenüber seinem Konkurrenten Binali Yıldırım von Erdoğans AK-Partei. Selbst in vielen konservativ-religiösen Stadtteilen und eigentlichen AKP-Hochburgen Istanbuls konnte İmamoğlu diesmal gewinnen. So einen fulminanten Sieg hatte selbst die Opposition nicht erwartet. So gingen vielerorts in Istanbul die Menschen am Sonntagabend spontan auf die Straßen und feierten die ganze Nacht.
In der AKP hingegen herrscht große Sprachlosigkeit. Ihr Binali Yıldırım trat direkt nach Bekanntgabe der ersten Ergebnise am Abend vor die Kameras, gestand seine Niederlage ein und gratulierte seinem Konkurrenten. Damit unterband er sofort jede Diskussion um die Legitimität des Wahlsieges. Erdoğan gratulierte İmamoğlu immerhin per Twitter. Schritte, die die Regierung schon nach der Wahl vom 31. März hätte gehen sollen. Doch stattdessen hatte sie damals das Wahlergebnis angefochten und auf Neuwahlen gedrängt. Damit haben sie sich gründlich verrechnet.
Wahlwiederholung war Riesenfehler
Denn während der Abstand zwischen beiden Kandidaten damals sehr gering war und die Legitimität İmamoğlu daher auf wackeligen Füßen stand, ist sie seit dem gestrigen Wahsieg von 54,21 Prozent zementiert. Viele Istanbul glaubten nicht den Vorwürfen der Regierung, dass die Opposition stimmen geklaut habe. Stattdessen sahen sie İmamoğlu als Opfer, dem Unrecht getan wurde, der jedoch beharrlich, energiegeladen und rethorisch geschickt um sein Recht kämpfte. Damit ist er in den letzten Wochen so bekannt geworden, dass er heute bereits als zukünftiger Präsident gehandelt wird. Erdoğan hat sich damit seine Konkurrenz selbst gezüchtet.
Die AKP hat mit der Wahlwiederholung einen Riesenfehler begangen, findet auch die konservative Kolumnistin Nihal Bengisu Karaca in der Zeitung Habertürk. Sie führt das vor allem auf den Zickzackkurs der AKP im Wahlkampf zurück: „Es war, als ob ein Kind das Cockpit betreten und alle Knöpfe vor sich gedrückt habe“, so Karaca in ihrer heutigen Kolumne. „In der Angst, Istanbul ein zweites Mal zu verlieren, wurden so schnell und so widersprüchliche Dinge getan, dass jedem mit einem bisschen Erinnerungsvermögen schwindelig wurde. “
CHP: Rückbesinnung auf soziale Themen
So diffamierte die AKP erst alle ihre Gegner als Terroristen, ließ dann aber kurz vor der Wahl über staatliche Kanäle einen Brief von PKK-Chef Öcalan verbreiten. Der rief darin seine Unterstützer dazu auf, unparteilich zu bleiben – also im Klartext İmamoğlu keine Stimme zu geben. Das dürfte der AKP mehr geschadet als genützt haben. Zudem hat die derzeitige türkische Wirtschaftskrise wohl deutlichen Anteil an ihrer Wahlschlappe. Vor allem die Unter- und Mittelschicht, also Erdoğans Stammwähler, leiden unter hoher Arbeitslosigkeit und Inflation. Die Versprechen des AKP-Kandidaten Yıldırım, mit neuen Großprojekten die Wirtschaft anzukurbeln, fruchteten nicht.
Wirkungsvoller waren da die Wahlversprechen von İmamoğlu, Sozialhilfe auszubauen, Kindergärten und Parks zu errichten. Seine Partei, die sozialdemokratische CHP und Schwesterpartei der SPD, zeigte sich in den letzten Jahrzehnten wenig sozialdemokratisch, sondern galten eher als nationalistische, verkrustete Partei der westlich orientierten Eliten, die außer den Ideen von Republikgründer Atatürk wenig Neues zu bieten hatte. İmamoğlu und die CHP-Istanbul-Vorsitzende Canan Kaftancıoğlu, die İmamoğlu entdeckte und seiner Kampagne entwarf, haben der Partei nun eine neue Richtung gegeben. Sie hörten im Wahlkampf auf die Bedürfnisse der ärmeren Schichten, gingen auf kurdische und konservative Wähler zu – das waren einst die größten Vorteile von Erdoğans AKP.
Vor allem junge Wähler für İmamoğlu
Die CHP sollte diese Chance nutzen und nicht in alte, arrogante Verhaltensweisen zurückfallen. Sie sollten jungen, visionären Kandidaten eine Chance geben. Schließlich waren es vor allem junge Wähler, die der CHP diesmal ihre Stimme gaben. Die nach mehr Freiheiten lechzen. Diese Wahl kann auch als das erste politische Resultat der Gezi-Proteste vor sechs Jahren betrachtet werden, die damals eine versöhnlichere, freiheitlichere Politik jenseits aller ethnischen und religiösen Grenzen forderten. Die Stimmung auf Istanbuls Straßen gestern Abend ähnelte der Euphorie der Gezi-Proteste. „Wir sollten uns freuen, aber ohne damit jemand Anderen zu verletzen“, mahnte İmamoğlu gestern Abend. Denn er weiß, wie groß die Gefahr ist, das sich die politischen Gräben in der Türkei noch weiter vertiefen. Er setzt nun auf Dialog, appelierte auch an Erdoğan, mit ihm zusammenzuarbeiten.
Schon heute kann sich zeigen, ob die Türkei bereit ist, einen demokratischeren Weg zu beschreiten. Am Morgen begannen die Gerichtsverfahren gegen 16 prominente Personen der türkischen Zivilgesellschaft, denen vorgeworfen wird, die Gezi-Proteste organisiert und einen Umsturz in der Türkei geplant zu haben. Die Staatswantschaft fordert bis zu 2970 Jahre Haft für sie.
arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.