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Neuanfang in Tripolis

von Jérôme Cholet · 25. August 2011
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Der Nationale Übergangsrat muss den Eindruck vermeiden, die Rebellen aus Bengasi wollten das Land allein regieren.

Vier Tage nach der erfolgreichen Invasion der Rebellen ist die Übergangsverfassung in Kraft getreten. Zwar ist Diktator Muammar al-Gaddafi noch nicht gefasst, das Land wird nun aber de facto von Mustafa Abdel Dschalil regiert, dem Vorsitzenden des Nationalen Übergangsrates. Innerhalb von 30 Tagen muss er eine Übergangsregierung einsetzen, demokratische Wahlen innerhalb von acht Monaten hat er bereits angekündigt.

40 Jahre Gaddafi
"Dschalil ist aufgrund seiner persönlichen Art und seiner Herkunft aus einem wichtigen Stamm die Gallionsfigur," sagt Hans-Peter Mattes vom GIGA-Nahostinstitut Studien in Hamburg, "er wird aber nur die Führungsfigur im Übergangsprozess sein und hat selbst gesagt, danach müssen andere Personen die Politik bestimmen. Wer, ist allerdings noch unklar." Offen ist auch, wie die verschiedenen Rebellengruppen in Zukunft zusammenarbeiten werden. "Da gibt es ganz unterschiedliche Gruppen und ganz unterschiedliche Interessen," sagt Rolf Mützenich, außerpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion.

Über 40 Jahre lang war Gaddafi an der Macht, etwa 80 Prozent der libyschen Bevölkerung kennen keinen anderen Präsidenten. Nun scheint er sich entweder in der Hauptstadt versteckt oder Zuflucht bei ihm loyalen Stämmen im Westen des Landes gefunden zu haben. Bei den Kämpfen in der vergangenen Woche sind etwa 400 Rebellen getötet und etwa 600 verletzt worden. In der Hauptstadt werden zwar noch einzelne Stadtteile von seinen Anhängern verteidigt und seine Geburtsstadt Sirte ist auch noch in ihren Händen, sicher scheint jedoch: Gaddafis Zeit ist vorbei.

Wie geht es nun weiter?

"Der Gaddafi-Stamm wird in Zukunft keine große Rolle spielen, er zählt nur etwa 120.000 Mitglieder," sagt Libyen-Experte Mattes, "aber er wird auch nicht komplett marginalisiert werden, denn der Nationale Übergangsrat sucht alle Kräfte einzubinden."

An den Stämmen wird sich die Stabilität des Landes entscheiden. Insgesamt zählt Libyen etwa 20 bis 30 große Stammesverbände, allein in Bengasi werden etwa 150 Stämme gezählt. Gaddafi hat sie immer politisiert, sich ihre Loyalität erkauft und sie regelmäßig gegeneinander ausgespielt. Zuletzt suchte er sogar Stammesangehörige als Soldaten zu rekrutieren.

Experten befürchten den Zerfall der Rebellenbewegung in widerstreitende Gruppen, weil ihnen die Institutionen als Grundlage der Einheit fehlten. Oder aber ihre Spaltung in ein liberales, dem Westen verbündetes Lager und eine islamistische Bewegung, die in er Bevölkerung großen Rückhalt genießen würde. Der Nationale Übergangsrat wurde allerdings schon von der Mehrheit der Stämme anerkannt. Er muss nun eine Regierung benennen und diese dann eine Übergangsnationalversammlung organisieren, deren Hauptaufgabe wiederum die Ausarbeitung einer neuen libyschen Verfassung sein wird.

Machtteilung und Minderheitenschutz
"Dabei ergeben sich zwei Herausforderungen: erstens muss die Sicherheitslage stabilisiert werden, zweitens die Lokalräte gut funktionieren, die ihre Vertreter in den Übergangsrat entsenden," sagt Mattes vom Nahost-Institut, "der Rat ist von ostlibyschen Stämmen dominiert, wenn dies nicht korrigiert wird, wird es Probleme geben, die bis zur Teilung des Landes reichen könnten. Nur bei einer proportionalen Vertretung wird auch die Aufteilung der politischen Ämter und der Erdöleinnahmen gerecht geschehen und allgemein akzeptiert werden."

In der Verfassung selber wird dann vor allem um die Machtteilung und den Minderheitenschutz gerungen werden. Die nicht-arabischen Berber-Stämme, die unter anderem in den Nafusa-Bergen leben, haben bereits das Ende ihrer jahrzehntelangen Unterdrückung gefordert. Die etwa 420.000 Menschen zählende Gruppe will unter anderem ihre Sprache anerkannt wissen. Die Tuareg und Tebu fordern, vom künftigen Wahlgesetz begünstigt zu werden. "Die Herrschaft Gaddafis basierte letztlich auf der Allianz dreier Stämme: des kleinen Gadafa-Stammes, des Warfalla- und des Maqarha-Stammes," sagt Hans-Peter Mattes, "die künftige Regierung wird auch den Warfalla-Stamm einbeziehen müssen, sonst würden eine Million Libyer marginalisiert."

Schließlich steht der wirtschaftliche Neuaufbau desLandes an. "Neben dem Öl gibt es kaum Industrie und nur beschränkte Möglichkeiten für die Landwirtschaft," sagt Mattes, "wir haben ein defizitäres Bildungssystem und eine sehr junge Bevölkerung. Die sucht vor allem Arbeit und Perspektiven."

Wettlauf um die Gunst der neuen Regierung
Die Welt liefert sich unterdessen einen Wettlauf um die Gunst der neuen Regierung. Der französische Präsident Nicolas Sarkozy hat gestern den Vorsitzenden des Nationalen Übergansgrates Dschalil getroffen, für nächste Woche ist eine internationale Geberkonferenz geplant. Auch die Vereinigten Staaten von Amerika haben Hilfe zugesagt. Dabei ist das internationale Interesse an Stabilität in Libyen groß.

"Wir wissen nicht, wie einig sich die Rebellengruppen und die verschiedenen Stämme sind," sagt Gernot Erler, SPD-Fraktionsvize, "das ist ein großes Risiko. Und es wird stark darauf ankommen, jetzt möglichst viele Kontakte zu nutzen, um auf den Diskussionsprozess der neuen Eliten in Libyen Einfluss zu nehmen." Ausschließen, dass Libyen ein gescheiterter Staat wie Somalia wird, kann Erler noch nicht.

Die NATO rief den Nationalen Übergangsrat auf, das Land zu einen und eine Zukunft zu gestalten, die auf Versöhnung und Beachtung der Menschenrechte basiert. Die Europäische Union lobte den Mut der Libyer und stellte ihr Hilfe beim Aufbau neuer, demokratischer Institutionen in Aussicht.

Gaddafi vor Gericht?

Über die zukünftige Rolle der internationalen Gemeinschaft herrscht darüber hinaus Unklarheit. Die NATO hat die UN-Resolution 1973 aufs extremste gedehnt. Aus der Mission, Zivilisten zu schützen und die Einhaltung einer Flugverbotszone zu überwachen, wurde de facto die Grundlage für die Unterstützung der Rebellion gegen Gaddafi. Nun ist die Frage, was aus der Resolution wird und - sollte es zu Kämpfen zwischen den verschiedenen Rebellengruppen kommen - ob die NATO auch dann eingreift, um Zivilisten zu schützen.

Die EU schaut in Richtung NATO, die NATO wartet auf die UN. Die Autorisierung des Sicherheitsrates, Blauhelmsoldaten zu entsenden, könnte allerdings Wochen dauern. Zudem bedarf es der Partner in der Region, auch Katar, Jordanien und die Vereinigten Arabischen Emirate sind angehalten, Soldaten bereitzustellen. Die NATO hat einen weiteren Einsatz in Libyen an drei Bedingungen geknüpft, erstens einen Auftrag der Vereinten Nationen, zweitens die Zustimmung der libyschen Regierung und drittens, den Verzicht auf Bodentruppen.

"Der Verlauf hat gezeigt, dass es nicht gut ist, wenn man Militärbündnisse nutzt. Wir müssen uns in der nächsten Zeit überlegen, dass die Vereinten Nationen selber stärkere Möglichkeiten bekommen, um den Menschenrechtsschutz durchzusetzen," sagt Rolf Mützenich.

Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag hat unterdessen seine Forderung bekräftigt, Gaddafi, seinen Sohn Saif al-Islam und den Chef der militärischen Geheimdienste Abdullah al-Senussi vor Gericht stellen zu wollen. Sie alle hätten sich der Verbrechen gegen die Menschlichkeit verdächtig gemacht.

Der irakische Diktator Saddam Hussein konnte sich nach dem Fall Bagdads noch sechs Monate versteckt halten. Und Gaddafi hat sich jahrzehntelang auf ein Untertauchen vorbereitet, es könnte also noch etwas dauern. Nur zurück wird der alte Diktator nicht mehr kommen.

Autor*in
Jérôme Cholet

arbeitet als freier Autor mit Schwerpunkt Afrika, Lateinamerika und Naher Osten.

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