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NATO-Norderweiterung: Was Erdoğan gegen Schweden und Finnland hat

Der türkische Staatspräsident Erdoğan hat sich negativ über eine mögliche NATO-Mitgliedschaft von Schweden und Finnland geäußert. Damit will er auch innenpolitisch punkten. Doch außenpolitisch könnte er sich verzocken.
von Kristina Karasu · 16. Mai 2022
Droht ein Nein der Türkei zum NATO-Beitritt Schwedens und Finnlands? Der türkische Präsident Erdoğan pokert hoch in dieser Frage.
Droht ein Nein der Türkei zum NATO-Beitritt Schwedens und Finnlands? Der türkische Präsident Erdoğan pokert hoch in dieser Frage.

Mal wieder gelingt es dem türkischen Präsidenten Erdoğan mit markigen Worten, zum internationalen Tagesgespräch zu werden: „Derzeit beobachten wir die Entwicklungen bezüglich Schwedens und Finnlands, aber wir haben keine positive Meinung dazu“, sagte der türkische Staatspräsident am Freitag zum Ansinnen der beiden skandinavische Länder, Mitglieder der NATO zu werden. Finnland und Schweden seien geradezu „Gasthäuser für Terrororganisationen“, so Erdoğan.

Wir das NATO-Land Türkei nun von seinem Veto-Recht Gebrauch machen und eine Aufnahme der beiden Staaten verhindern? Erdoğans Sprecher und oberster außenpolitischer Berater İbrahim Kalın ruderte am Wochenende zurück. Die Türkei sei nicht grundsätzlich gegen einen NATO-Beitritt der beiden Länder: „Wir schließen die Tür nicht“, betonte er. Allerdings forderte Kalın Verhandlungen mit beiden Ländern über ihren Umgang mit der kurdischen Terrormiliz PKK – es gehe für die Türkei dabei um eine Angelegenheit der nationalen Sicherheit.

Skandinavien: Großzügig gegenüber Kurd*innen

Tatsächlich haben die skandinavischen Länder seit den 1970er Jahren viele politische Flüchtlinge aus der Türkei aufgenommen, insbesondere Kurd*innen und Linke. Ankara wirft insbesondere Schweden vor, auch kriminellen PKK-Mitgliedern Unterschlupf zu bieten. Selbst der ansonsten regierungskritische Politanalyst Murat Yetkin weist auf dem Blog Yetkinreport darauf hin, dass PKK-nahe Lobbyorganisationen in Stockholm und Helsinki großen Einfluss besäßen. Ankara fordert nun, dass sich das ändert.

Noch deutlicher wird der Konflikt um die Kurdenfrage in Nordsyrien. Die dortige kurdische Miliz YPG ist Bündnispartnerin der USA; auch Schweden schickt Finanzhilfen in die dortige Kurdenregion. Ankara dagegen betrachtet die YPG als syrischen Arm der PKK und hat in den vergangenen Jahren mehrere Militäroperationen gegen sie geführt. Aus Protest stoppten mehrere Länder 2019 ihre Rüstungsexporte in die Türkei – darunter Finnland und Schweden.

Türkei will Ende des Waffenembargos

Schweden forderte in der Vergangenheit gar ein EU-weites Waffenembargo gegen die Türkei. Erdoğans Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu kritisierte das am Wochenende beim informellen Treffen der NATO-Außenminister*innen in Berlin scharf und forderte ein Ende des Embargos. Ihre Zustimmung für den NATO-Beitritt der nordischen Länder, so scheint ist, will sich die Türkei abkaufen lassen.

In dieses Bild passt auch das Gerücht, Erdoğan könnte vor den nächsten Wahlen 2023 eine Militäroperation gegen Kurden in Nordsyrien starten. In der Vergangenheit nutzte er diese Strategie schon mehrmals, um von innenpolitischen Problemen abzulenken und sich als erfolgreicher Kriegsherr zu präsentieren. Bei der nationalistisch gesinnten Wählerschaft konnte Erdoğan damit stets punkten.

Erdoğan will von Wirtschaftskrise ablenken

Ohnehin kommt es in der Türkei gut an, wenn Erdoğan sich gegenüber westlichen Bündnissen als starker Mann präsentiert, gar der NATO die Stirn bietet. Und Popularität kann der Präsident derzeit gut gebrauchen, denn zuhause sind seine Zustimmungswerte angesichts von Wirtschaftskrise und Hyperinflation von offiziell 70 Prozent in den Keller gerutscht.

Manche türkische Kommentatoren betrachten das NATO-Manöver Erdogans allerdings als höchst heikel. Der hochrangige Ex-Diplomat Oğuz Demiralp hält es für einen denkbar schlechten Zeitpunkt, aus der Reihe zu tanzen, während im Westen der Wunsch wachse, sich gegenüber Russland zu vereinen: „Gerade jetzt, wo die Türkei beim Thema Ukraine mit dem Westen weitestgehend harmoniert und selbst unser Dialog mit Russland positiv bewertet wird, wäre es falsch, zu einem Land zu werden, das den Integrationsprozess des Westens blockiert“, warnt Demiralp auf dem Online-Portal t24.

Für Ankara könnte Stunde der Wahrheit kommen

Tatsächlich konnte die Türkei sich seit Beginn des Ukraine-Krieges international ein Stück rehabilitieren. Der Westen begrüßte es, wie sich Ankara sehr schnell und klar gegen den Angriffskrieg Russlands positionierte und seine Zugehörigkeit zur NATO betonte. Zwar hat sich Ankara den westlichen Sanktionen gegenüber Russland nicht angeschlossen und immer wieder erklärt, seine engen Beziehungen zu Moskau fortführen zu wollen. Doch weil Erdoğan sich als Vermittler im Ukraine-Krieg präsentieren kann, wird das vom Westen bisher stillschweigend hingenommen.

Nun aber könnte Erdoğan an die Grenzen seines Sonderweges kommen. Beim Thema NATO-Beitritt von Finnland und Schweden könnte er gezwungen sein, zum ersten Mal klar für oder gegen die Interessen Russlands zu stimmen.

Autor*in
Kristina Karasu

arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.

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