NATO-Beitritt: Warum Österreich weiter neutral bleiben will
IMAGO/photonews.at
Mit dem „schwarzen Donnerstag“, dem 24. Februar, dem Tag, an dem Putins Invasionsarmeen die Ukraine überfielen, erlebte ganz Europa eine „Zeitenwende“, wie es der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz formulierte. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock drückte es so aus: „Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht.“
Die beste Werbung für die NATO
Die labile Sicherheitsarchitektur Europas, aber auch alle routinierten Gewohnheiten, sind zerstört. Am 12. Mai hat Finnland einen Antrag auf NATO-Mitgliedschaft gestellt, der auch in der finnischen Bevölkerung eine breite Mehrheit findet – ausgerechnet in dem Land, in dem die neutralistische Balance zwischen den Blöcken am tiefsten Wurzeln geschlagen hatte. Das Nachbarland Schweden will den Schritt gleich mitgehen – auch eine bemerkenswerte Kehrtwende, bedenkt man das Selbstbild des allianzungebundenen Landes als „Friedensmacht“ mit dem verbundenen Kleinstaatsidealismus.
Die osteuropäischen Nationen und die baltischen Länder sind sowieso froher denn je, Mitglieder der NATO und deren Beistandsklausel zu sein. Und auch andere Länder des einstigen sowjetischen Glacis, wie etwa Georgien, würden am liebsten so schnell wie möglich in die Allianz eintreten oder werden jedenfalls ihre Sicherheitsinteressen zunehmend gegenüber einem unberechenbaren Russland definieren, wie es zum Beispiel Kasachstan bereits getan hat.
Stellt man das alles nüchtern in Rechnung, muss man konstatieren: Putin kann keine Freude mit den Veränderungen haben, die er eigenhändig bewirkt hat. Bessere Werbung für die NATO als den Angriff auf die Ukraine hätte es kaum geben können.
Neutralität steht nicht zur Debatte
An einem Land geht die Debatte und der Paradigmenwechsel erstaunlicherweise vollends vorbei: an Österreich. Die Frage eines NATO-Beitritts wurde dort allenfalls in zwei, drei Fernsehdebatten aufgeworfen, aber dann sofort wieder erstickt. Bundeskanzler Karl Nehammer verordnete, die Neutralität stehe „nicht zur Debatte“. Auch die Oppositionsführerin und ehrgeizige Anwärterin auf den Kanzlerinnenposten, SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner, beschwört bei jeder Gelegenheit die österreichische Neutralität, die „nicht verhandelbar“ sei. Die rechtsnationalistische FPÖ mit ihrem passiv-aggressiven Zwergstaats-Patriotismus sieht das genauso. Für die Grünen wäre der Kurswechsel von der pazifistischen Gewaltfreiheitspartei zur NATO-Beitritts-Agitatorin dann doch einen Kick zu scharf. Und sonst gäbe es noch die liberalen Neos, die angesichts dieser Phalanx wohl einfach die Klappe halten.
Eine Debatte über einen NATO-Beitritt und ein Ende der österreichischen Neutralität findet schlichtweg nicht statt. Der offensichtliche Grund ist simpel: Neutralität und Bündnisfreiheit sind in Österreich so populär, dass sich niemand diese Diskussion antun möchte – und so bleibt der Geist des Neutralismus auch dominant.
Tief in der Identität des Landes verankert
Teils ist das natürlich bequeme Trittbrettfahrerei: Österreich ist von NATO-Ländern umzingelt, sieht man von den Grenzen zu Liechtenstein und der Schweiz ab. Österreich muss der NATO nicht beitreten, um faktisch in den Genuss der Beistandsklausel nach Artikel 5 des NATO-Vertrages zu kommen. Um das Territorium Österreichs verletzten zu können, muss eine Invasionsarmee vorher ein NATO-Mitglied angreifen. Wäre man an der NATO-Außengrenze gelegen, wäre die sicherheitspolitische Sorge – und Debatte – gewiss eine ganz andere.
Aber das ist nur ein Teil der Erklärung. Die Neutralität ist tief in der österreichischen Identität verankert. Wie Deutschland war Österreich nach 1945 von den Alliierten besetzt und in Besatzungszonen unterteilt, galt aber als „befreites“ Land. Der Status des Staates blieb lange unklar, aber es war das politische Ziel der großen Parteien, die volle Souveränität zu erlangen. Nach Stalins Tod wollte die Sowjetunion unter Nikita Chruschtschow innenpolitische und außenpolitische Signale einer „Tauwetterpolitik“ aussenden – die Moskauer Führung entschied sich dafür, dass Österreich dieses Geschenk in der Außenpolitik sein sollte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg: Souveränität für Neutralität
Heute weiß man, dass die Sowjetunion bereits entschlossen war, Österreich die Souveränität im Austausch für Neutralität zu schenken. Als jedoch 1954 und 1955 mehrere österreichische Delegationen nach Moskau fuhren, um über ein Ende der seit 1945 währenden Besatzung und über einen Staatsvertrag zu verhandeln, wussten sie davon nichts und so mancher Beobachter hatte Zweifel, ob die Delegationen lebend zurückkommen würden. Die österreichische Neutralität ist deshalb im kollektiven Gedächtnis mit dem Wiedererlangen der „Freiheit“ verbunden, aber auch mit klugem, geschickten Regierungshandeln der damaligen ÖVP-SPÖ-Koalition.
Über die Jahrzehnte wurde der Geist der Neutralität dann zu so etwas wie einer nationalen „Zivilreligion“. Einige wichtige Begegnungen zwischen den Supermächten fanden auf dem neutralen Territorium Österreichs statt, etwa 1961 das Treffen von John F. Kennedy und Nikita Chruschtschow, das allerdings die Kuba-Krise im darauffolgenden Jahr nicht verhinderte. Auch haben einige UN-Institutionen genau wie die OSZE hier ihren Sitz. Das Land sieht sich in der Rolle des Friedensstifters und Vermittlers. So reiste Bundeskanzler Nehammer im April erst in die Ukraine und dann als erster westlicher Staatschef seit Kriegsbeginn nach Russland zu Putin – wobei die Vergangenheit etwas verklärt wird. Heute ist man jedenfalls parteiübergreifend stolz auf die eigenständige Außenpolitik des einstigen sozialdemokratischen Bundeskanzlers Bruno Kreisky, der für Österreich in Moskau die Souveränität mitverhandelte und von 1970 bis 1983 das Land regierte.
Eine obskure Kehrseite
Diese „politische Emotionalität der Neutralität“ hat ihre sympathischen Seiten – „Dialog statt Gewalt“, „Friede statt Krieg“, „große Aufgabe für die Kleinen“ –, aber auch ihre obskure Kehrseite. In Österreich neigt man dazu, sich die Welt so herzurichten, dass alle Katzen quasi grau sind, man unparteiisch zwischen den bösen Amerikaner*innen und dem bösen Putin steht. Heute ist der Neutralismus von moralisch dubiosem Appeasement-Geist mit bloßem Auge kaum mehr zu unterscheiden. War die Neutralitätspolitik unter Kreisky noch internationalistisch interpretiert, wurde sie immer mehr zum Gemüt der Hinterwäldlerei. Frei nach dem Motto: Wenn wir uns nur hinter dem nächsten Baum verstecken, wird uns keiner sehen und dann kann uns nichts passieren. So in etwa lautet, nur wenig sarkastisch überspitzt, heute die sicherheitspolitische „Idee“ fast aller österreichischer Parteien.
Real ist die Neutralität natürlich längst ausgehöhlt. Als Mitgliedsstaat der Europäischen Union ist eine unabhängige Außenpolitik kaum möglich und nicht einmal erstrebenswert. In die gemeinsame Sicherheitspolitik der EU ist das Land sowieso eingebunden. Jüngst gaben die NATO-Mitgliedsländer innerhalb der Europäischen Union eine Beistandserklärung gegenüber den neutralen Mitgliedern ab. Früher hatte Österreich vielleicht so etwas wie eine „Neutralitätspolitik“. Heute ist es „neutral, aber ohne Politik“.
Am 13. Mai erschienen im IPG-Journal