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Nach der Wahl in Israel: „Die lange Pattsituation ist noch nicht vorbei.“

Am Montag fand in Israel die dritte Parlamentswahl innerhalb eines Jahres statt. Wer Ministerpräsident wird, ist noch nicht abzusehen. „Israel befindet sich in einer ernsthaften politischen Krise“, sagt der Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung, Paul Pasch.
von Kai Doering · 4. März 2020
Israel hat gewählt – zum dritten Mal innerhalb eines Jahres. Wer Ministerpräsident wird, steht allerdings noch nicht fest.
Israel hat gewählt – zum dritten Mal innerhalb eines Jahres. Wer Ministerpräsident wird, steht allerdings noch nicht fest.

Die Likud-Partei von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu hat die Parlamentswahl in Israel gewonnen. Wie bewerten Sie das Ergebnis?

Mit 99,8 Prozent der ausgezählten Stimmen erreicht Netanyahus Likud 36 von 120 Mandaten und der rechte Block insgesamt 58 Mandate. Damit gilt der geschäftsführende Ministerpräsident eindeutig als Wahlsieger. Netanyahu gewann das verlorene Terrain zurück, dass der Likud zwischen den beiden Wahlen von 2019 verloren hatte. Laut dem vorläufigen Wahlergebnis fehlen ihm drei Mandate zur parlamentarischen Mehrheit.

Bei der Wahl im September war Likud noch auf dem zweiten Platz gelandet. Wie hat es Netanyahu geschafft, jetzt zu gewinnen?

Bereits am Morgen nach der letzten Wahl hat Netanyahu damit begonnen, diesen Wahlkampf zu planen. Er wusste, dass er mit den 55 Mandaten vom 17. September keine Regierungskoalition würde bilden können und seine einzige Möglichkeit darin bestand, Scheinverhandlungen zu führen und sich auf eine dritte Wahl vorzubereiten. Dabei konzentrierte Netanyahu sich auf jede mögliche Zielgruppe, um ein paar tausend zusätzliche Stimmen zu erzielen. Äthiopische Israelis, Taxifahrer*innen, Kanabiskonsumenten und sogar am Vorabend des Wahltags El Al-Mitarbeiter*innen, die besorgt sind, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, wenn die Coronavirus-Krise die Luftfahrtindustrie dezimiert.

Netanyahu kämpfte mit harten Bandagen gegen seinen Herausforderer Benny Gantz. Er und seine Anhänger stellten den ehemaligen Generalstabschef als schwach, unartikuliert und möglicherweise korrupt dar. Gantz war gezwungen zu leugnen, dass er an psychischen Problemen leide, nachdem das Netanyahu-Lager seine gelegentlich zögernden Sprachmuster verspottet hatte. Netanyahu wiederholte immer wieder die völlig unbewiesene Behauptung, dass Gantz’ Telefon vom Iran gehackt worden und er daher anfällig für Erpressung sei. Darüber hinaus wurde eine Tonbandaufnahmeeines politischen Beraters von Gantz in einem Gespräch mit seinem Rabbiner in Umlauf gebracht, in dem er Gantz als potenzielle Gefahr für Israel bezeichnete, der zu ängstlich sei, den Iran anzugreifen.

Mit einer glanzlosen und inkonsistenten Kampagne gelang es Blau-Weiss nicht, liberalere Rechte für sich zu gewinnen. Stattdessen wanderten rechte Liberale zum Likud. Das neue Wahlbündnis aus Arbeitspartei, Gesher und Meretz erlitt herbe Verluste und schrumpfte durch Wählerwanderung zu Blau-Weiss und teils auch zur Vereinigten Arabischen Liste von elf auf sieben Mandate.  

Die erhöhte Wahlbeteiligung der arabischen Bevölkerung führte zu einem Stimmengewinn der Vereinigten Arabischen Liste von 13 auf 15 Mandate. Damit hat die Liste ihre Stellung als drittstärkste Partei ausgebaut. In den Augen der meisten Israelis ist die Liste nach wie vor nicht regierungsfähig, was Netanyahu im Wahlkampf zentral thematisierte.

Netanyahu hat die Wahl gewonnen, obwohl in zwei Wochen gegen ihn ein Prozess wegen Korruption beginnt. Überrascht Sie das?

Israel befindet sich in einer ernsthaften politischen Krise. Ministerpräsident Benjamin Netanyahu wurde Ende Januar 2020 wegen Bestechung, Betrug und Untreue in drei Fällen angeklagt und muss sich ab dem 17. März vor dem Jerusalemer Bezirksgericht verantworten. Dennoch halten 45 Prozent der Befragten Netanyahu als am besten geeignet für das Amt des Premierministers, verglichen mit 34 Prozent für den Herausforderer Gantz.

Knapp die Hälfte der israelischen Wähler stimmte für einen Mann, der sich in zwei Wochen vor Gericht verantworten muss. Die Wähler kennen die Anklage gegen ihn und haben ihn dennoch gewählt, weil sie offenbar seiner Führung mehr vertrauen als dem israelischen Rechtssystem.

Es ist nicht absehbar, ob Israel auf eine Verfassungskrise zusteuert. Die Frage, ob ein Angeklagter Abgeordneter mit der Regierungsbildung beauftragt werden kann, hat sich bisher in Israel nicht gestellt.

Welchen Einfluss hatte der Ende Januar vorgestellte Friedensplan von Donald Trump auf die Wahl?

Der sogenannte Jahrhundertplan von US-Präsident Donald Trump spielte im Wahlkampf der Likud-Partei eine gewisse Rolle. Netanyahu gelang es, der israelischen Öffentlichkeit diesen Plan als „sein Werk“ zu verkaufen. Wie schon im Falle des Ausstieges der USA aus dem Atomabkommen mit dem Iran, behauptete Netanyahu, sei es ihm gelungen, Trumps Politik auf die israelischen Interessen zuzuschneiden. Der Plan wurde mit wichtigen historischen Meilensteinen der israelischen Geschichte, wie etwa mit dem UN-Teilungsplan von 1947 oder den Friedensverträgen Israels mit Ägypten und Jordanien auf eine Stufe gestellt. Da der Plan oder zumindest große Teile von ihm bei der großen Mehrheit der israelischen-jüdischen Bevölkerung auf Zustimmung stoßen, punktete die Likud-Partei durch die Tatsache, dass der Trump-Nahostplan vor den Knessetwahlen vorgestellt wurde.

Im Wahlkampf ging es in erster Linie ging es um die Sicherheit Israels. Israel kämpft im Gazastreifen gegen die palästinensische Hamas, im Libanon gegen die Hizbollah und in Syrien gegen die Reste von ISIS und den Einfluss der iranischen Revolutionsgarden. Ausserdem steht der Iran bei den Israelis im Verdacht, auch die Entwicklung von Atomwaffen zu betreiben. Die meisten Israelis haben die Aufkündigung des Atomabkommens mit dem Iran durch die USA begrüßt und fordern eine internationale Isolierung des Iran und harte Sanktionen. Diese Politik wird von Netanyahu propagiert. Da es in der Sicherheitspolitik einen nationalen Konsensus gibt, konnte der Herausforderer sich hier nicht profilieren.

Allerdings ist auch die Zunahme der Wahlbeteiligung der israelisch-arabischen Bevölkerung und ein beeindruckender Mandatsgewinn der Vereinigten Arabischen Liste mit dem Trump-Plan in Zusammenhang zu bringen. Der Plan enthält nämlich die Möglichkeit, dass arabische Städte und Dörfer Israels in den zukünftigen Staat Palästina eingegliedert werden, ein Szenario, dass die arabischen Bürger_innen Israels aufs Schärfste zurückweisen. Gleichzeitig lehnt die Vereinigte Arabische Liste, als einzige Fraktion der zukünftigen Knesset, Trumps Friedensplan vollständig ab.

Sowohl Netanyahu als auch Gantz haben angekündigt, im Falle eines Wahlsiegs das Jordantal im besetzten Westjordantal annektieren zu wollen. Was würde das bedeuten?

Sowohl Netanyahu als auch Gantz ist klar, dass bis auf – vielleicht – die USA, kein Land eine Annektierung des Jordantales anerkennen würde. Trotzdem haben es beide in Aussicht gestellt, da so ein Schritt in der israelischen Öffentlichkeit auf breite Zustimmung stößt. Allerdings gibt es hierzu einen großen Unterschied zwischen Netanyahu und Gantz: während der Ministerpräsident eine einseitige Annektierung durch Israel ankündigte, betonte Gantz mehrmals, dass so ein Schritt der Zustimmung der internationalen Gemeinschaft bedürfe.

Da diese Zustimmung nicht zu erwarten ist, hat diese Stellungnahme Blau-Weiss eher geschadet als genützt. Es bleibt auch abzuwarten, ob Netanyahu tatsächlich entschlossen ist, diese Annektierung durchzuführen. Der Preis dafür könnte nämlich der Ausbruch erneuter Gewalttätigkeiten mit den Palästinensern, ein Ende der Sicherheitskooperation mit der palästinensischen Autonomiebehörde, und sogar die Aufkündigung des israelisch-jordanischen Friedensvertrages durch Jordanien sein. All dies sind Maßnahmen, die die Sicherheit Israels eindeutig verschlechtern würden.

Für die weniger als 10.000 Siedler*innen des Jordantales im Westjordanland würde eine Annektierung durch Israel ohnehin kaum etwas ändern – schon heute genießen sie als Staatsbürger*innen Israels alle Rechte und Pflichten und sind gegenüber der palästinensischen Bevölkerung privilegiert. 

Die Wahl am Montag war die dritte innerhalb eines Jahres. Nach beiden waren sowohl Netanjahu als auch sein Herausforderer Benny Gantz daran gescheitert, eine Regierung zu bilden. Wird es einem von beiden dieses Mal gelingen?

Mit dem sich abzeichnenden Wahlergebnis ist die lange Pattsituation noch nicht vorbei. Netanyahu ist zweifellos der Wahlsieger, aber da sein Block nicht auf 61 Mandate kommt, kann er keine Regierung bilden und ist wieder da, wo er nach den Wahlen im April 2019 war.

Benjamin Netanyahu hat vier Mandate dazu gewonnen und ist daher unumstrittener Wahlsieger. Auch innerhalb seiner Likud-Partei ist er vorerst unangefochten. Dennoch fehlen Netanyahu und seinem rechten Block drei Abgeordnete für eine parlamentarische Mehrheit. Das Netanyahu-Lager ist daher bereits bemüht, drei potentielle Überläufer*innen aus den Oppositionsparteien ausfindig zu machen, die etwa für einen Ministerposten bereit wären, einer von Netanyahu geführten Regierung beizutreten. Auch über den Zerfall des aus vier Parteien bestehenden Wahlbündnisses Blau-Weiß wird spekuliert. Die Auflösung des Bündnisses würde es einzelnen Abgeordneten erleichtern, ins rechte Lager zu wechseln und Mehrheitsbeschaffer zu werden.

Welche Chancen hat Herausforderer Benny Gantz, Ministerpräsident zu werden?

Benny Gantz hat zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Option zur Regierungsbildung. Er hat angekündigt, weder mit der Vereinigten Arabischen Liste zusammen zu arbeiten noch einer Regierung beizutreten, deren Regierungschef sich wegen Korruption vor Gericht zu verantworten hat. Bisher ist nicht abzusehen, wie sich Avigdor Liberman und seine Partei „Unser Haus Israel“ (Yisrael Beitenu) positionieren werden. Vor der Wahl hatte sich Liberman eindeutig gegen eine Zusammenarbeit mit Netanyahu und den ultra-orthodoxen Parteien sowie mit der Vereinigten Arabischen Liste ausgesprochen.

Das Szenario einer von Gantz angeführten Minderheitsregierung ist unrealistisch. Blau-Weiss, Avoda-Gesher-Meretz und Libermans Partei kämen zusammen auf 47 Mandate. Diese Regierung müsste von den 15 Abgeordneten der Vereinigten Arabischen Liste toleriert werden. Eine Koalition der Nationalen Einheit unter Führung von Netanyahu und Gantz scheint ebenfalls ausgeschlossen.

Droht Israel damit möglicherweise sogar eine vierte Wahl?

Um das Schreckgespenst einer vierten Wahl im September zu verhindern, könnte eine konzertierte Aktion der 62 Abgeordneten der Opposition im Anschluss an die konstituierende Sitzung der 23. Knesset am 16. März erforderlich werden. Mit der bestehenden parlamentarischen Mehrheit könnte ein Gesetzesentwurf eingebracht werden, der es untersagt, einen unter Anklage stehenden Abgeordneten mit der Regierungsbildung zu beauftragen. Sollte ein solches Gesetz verabschiedet werden, müsste Netanyahu die politische Bühne räumen. Der Bildung einer Koalition der Nationalen Einheit stünde dann nichts mehr im Weg. Da Netanyahu um sein politisches Überleben kämpft und mit dem Rücken zur Wand steht, wird er vermutlich alles versuchen, um potentiellen Überläufer*innen den Wechsel ins rechte Lager schmackhaft zu machen.

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Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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