Nach der Parlamentswahl: Stabilität statt Freiheit in der Türkei
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Niemand hatte es vorausgesehen, weder Meinungsforschungsinstitute noch die Parteien selbst: bei den Neuwahlen in der Türkei erzielte die AKP, seit 13 Jahren allein an der Macht, 49,48 Prozent der Stimmen. Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu erklärte am Morgen danach vor jubelnden Anhängern: „Unsere Nation verlangte nach Stabilität und Vertrauen. Sie hat offen gezeigt, dass sie eine Lösung ihrer Probleme will. Es wird keinen Schritt zurück geben von Demokratie, Gesetz, Mitgefühl und Liebe. Die Rechte aller Bürger sind gesichert.“
Opposition in der Türkei beklagt Drangsalierung durch AKP
Genau das bezweifelt aber die Opposition. Denn in den letzten Monaten wurde die Meinungs- und Pressefreiheit massiv eingeschränkt, noch letzte Woche die Zentrale der regierungskritischen Mediengruppe Koza-İpek in Istanbul von der Polizei gestürmt und unter Zwangsverwaltung gestellt; die neuen Manager sind AKP-treu. Über tausend Bürger wurden seit letztem Jahr wegen Beleidigung des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan angeklagt, vielen drohen Haftstrafen.
Zugleich wirft die Opposition dem Staatspräsidenten vor, die Türkei nach den Wahlen im Juni bewusst ins Chaos gestürzt zu haben. Damals erreichte die AKP nur 40,8 Prozent der Stimmen und verfehlte die Regierungsmehrheit. Koalitionsgespräche scheiterten, Erdoğan rief Neuwahlen aus. Zugleich entflammte der Konflikt mit der PKK nach über zwei Jahren Waffenstillstand erneut, der Staat reagierte mit militärischer Härte. Oppositionsparteien wie die kurdennahe HDP glauben, dass Erdoğan den Konflikt bewusst entfacht habe, um in der Bevölkerung einen Wunsch nach einer stabilen Ein-Parteien-Regierung zu nähren. Sollte das der Plan gewesen sein, so scheint er aufgegangen.
AKP-Wähler wollen vor allem Ruhe
De Hälfte der Bevölkerung, so scheint es, will die goldenen Jahre der AKP zurück, als die Wirtschaft boomte und die Regierung sich reformfreudig zeigte. Vergessen will man die letzten Monate, in denen die Wirtschaft kriselte und die Türkische Lira gegenüber Dollar und Euro massiv an Wert verlor. Vergessen den Korruptionsskandal um die AKP und vor allem vergessen das blutige Attentat von Ankara, mutmaßlich verübt vom Islamischen Staat, bei dem über hundert Menschen ihr Leben verloren. Regierungsgegner warfen dem Staat dabei massive Sicherheitslücken vor – doch zur Rechenschaft wurde niemand gezogen. Nach dem überwältigenden Wahlsieg der AKP wird all das endgültig nicht mehr zur Diskussion stehen.
Die größten Wahlverlierern sind die ultrarechte MHP und die kurdennahe HDP. Die MHP erzielte 12 Prozent der Stimmen, im Juni waren es noch 16 Prozent. Ihre Wähler scheinen ihnen übel genommen zu haben, dass sie damals vor der Regierungsverantwortung flüchtete und die Beteiligung in jeglicher Koalition ausschloss.
HDP überspringt erneut die 10-Prozent-Hürde
Der kurdennahen HDP fiel von 13,1 auf 10,7 Prozent, ihr wurde die PKK zu Verhängnis. Nach Wiederaufflammen des PKK-Konfliktes im Sommer verurteilte die HDP zwar Terror und Gewalt jeder Art, distanzierte sich aber in den Augen vieler Wähler nicht klar genug von der PKK. Zudem erklärten Erdoğan und die AKP die HDP zum Feind Nummer eins und wurde nicht müde sie zu Terroristen zu erklären. Kaum ein Fernsehsender traute sich im Wahlkampf noch, der HDP Sendezeit einzuräumen, und aus Angst vor Anschlägen verzichtete die HDP auf jegliche Wahlkampfveranstaltungen.
Die sozialdemokratische Oppositionspartei CHP konnte mit 25,4 Prozent der Stimmen ihr Ergebnis vom Juni halten, doch sie blieb blass im Wahlkampf. Zwar taktierte ihr Vorsitzender Kemal Kılıçdaroğlu in den letzten Monaten besonnen, blieb mit allen Parteien in Gespräch und schloss keine Koalitionsoption aus. Doch wie alle anderen Oppositionsparteien präsentierten sie vor den Neuwahlen kein neues Wahlprogramm. Die AKP hingeben überarbeitete ihr komplettes Programm, griff das CHP-Versprechen von einer Erhöhung des Mindestlohnes auf, versprach großzügige Zuschüsse für Existenzgründer und Unterstützung berufstätiger Mütter. Zudem tauschte sie ihre Kandidaten im kurdischen geprägten Südosten des Landes aus – mit Erfolg.
Kommt jetzt das Präsidialsystem nach den Vorstellungen Erdoğans?
Hilfreich scheint auch gewesen zu sein, dass AKP-Politiker bei Wahlkampfveranstaltungen das von Erdoğan gewünschte Präsidialsystem nicht erwähnten. Kritiker hatten gewarnt, dass Erdoğan das Land damit in einen noch autoritäreren Staat verwandeln würde, mit aller Macht in seinen Händen. Auch bei vielen AKP-Wählern stieß die angestrebte Verfassungsänderung nur auf wenig Zustimmung. Doch aufgegeben hat der Präsident sein Vorhaben vermutlich nicht. 330 Abgeordneten-Stimmen sind nötig, um mit einem Referendum darüber abstimmen zu lassen, 316 Abgeordnete erzielte die AKP am Wahlabend – gut möglich, dass sie die restlichen Stimmen aus anderen Parteien gewinnen kann.
Ministerpräsident Davutoğlu forderte bereits am Wahlabend eine neue, „zivile und freiheitliche Verfassung“. Wie demokratisch diese wirklich aussehen wird, dürfte sich in den nächsten Monaten zeigen. Zu hoffen ist, dass er statt einer Abrechnung mit seinen Gegnern auf eine Aussöhnung der tief gespaltenen politischen Lager setzen wird.
arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.