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Nach der Katastrophe ist vor der Katastrophe

von Jérôme Cholet · 11. Juli 2011
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Im Laufe der Geschichte wurden 98 Prozent des Wahlbestandes von Haiti gerodet, meist um als Feuerholz verwendet zu werden, so dass Winde den letzten fruchtbaren Boden abtragen und das Land Naturkatastrophen wie Hurricanes und Überschwemmungen schutzlos ausgeliefert ist. Nichts hält die Insel mehr zusammen.

Das Erdbeben im letzten Jahr hat das gezeigt. Mehr als 250.000 Menschenleben forderte die Katastrophe, die Cholera brach aus, bis heute hat sich das Land nicht erholt. Denn den ökologischen und geographischen Problemen steht ein gescheiterter Staat gegenüber. Was für das Land die Erdbeben und Hurricanes sind, sind für den Staat Vetternwirtschaft und Korruption. Auf dem Korruptionsindex von Transparency International steht Haiti auf Platz 177 von 180 Staaten.

"Der versprochene Wiederaufbau hat auch ein Jahr nach dem Erdbeben noch nicht begonnen. Mehr als eine Million Menschen leben nach wie vor in Flüchtlingscamps," sagt Stefanie Hanke vom Karibik-Referat der Friedrich-Ebert-Stiftung in der benachbarten Dominikanischen Republik.

Hauptproblem Ungleichheit

Zwar ist Haiti der einzige Staat, der sich in einer Sklavenrevolution 1804 die Unabhängigkeit erkämpfte. Seitdem wechselten sich allerdings meist Diktatoren ab, darunter viele von Seiten des Militärs. Die Vereinigten Staaten haben das Land zweimal besetzt, um wieder etwas Ruhe und Ordnung zu schaffen - doch nur mit wenig Erfolg. Derzeit garantiert eine UN-Mission Ruhe und Ordnung in dem Inselstaat, die Armee wurde aufgelöst, die Polizei ist unterbezahlt, unfähig und korrupt.

Hauptproblem ist die große Ungleichheit. Das oberste Prozent der Bevölkerung vereint die Hälfte des Einkommens des Landes auf sich, während die Hälfte der Bevölkerung mit weniger als einem Dollar am Tag auskommen muss. Etwa 80 Prozent der Haitianerinnen und Haitianer sind verarmt, die meisten leben von Überweisungen von Angehörigen, die es ins Ausland geschafft haben. Ein öffentliches Schulwesen gibt es nicht, allein die Kosten für Schuluniformen, Textbücher und Schulmaterialien überfordern die meisten Familien. Nur etwa 65 Prozent der Kinder besuchen eine Grundschule und nur etwa 35 Prozent schließen diese erfolgreich ab.

Zum internationalen Handel steuert Haiti heute noch Textilien, Kakao, Kaffee und Mangos bei. Doch die Grundlagen für den Anbau von Agrarprodukten schwinden und mehr hat das Land in seiner derzeitigen Lage nicht zu bieten. Etwa drei Viertel der Bevölkerung sind sich selbst versorgende Bauern, ein Großteil davon musste nach dem Erdbeben im letzten Jahr jedoch die eigene Saat verzehren, um überhaupt über die Runden zu kommen.

Erfolglose Regierungsaufstellung

Die Regierung liegt am Tropf der internationalen Gemeinschaft. Der Großteil des haitianischen Haushaltes besteht aus Entwicklungshilfegeldern und Katastrophenschutzmitteln. Doch vielfach erfüllt der haitianische Staat nicht die Bedingungen, die Gelder abrufen zu können oder nicht über die Kapazitäten zu ihrer Verwendung. Nach dem Erdbeben des letzten Jahres wurde kurz überlegt, den Vereinigten Staaten von Amerika die Kontrolle des Landes zu überlassen. Die Insel ist auch deshalb so verwundbar, weil es keinen funktionierenden Staat mehr gibt. Auf dem Index für gescheiterte Länder nimmt Haiti für die Region Lateinamerika den ersten Platz ein.

Seit Monaten versucht der im Mai als Präsident vereidigte Musiker Michel Martelly einen Ministerpräsidenten und eine Regierung aufzustellen - bislang ohne Erfolg. Martelly gewann die Wahlen im Mai mit einer umstrittenen Mehrheit. Weil er aus dem Volk kommt, verehren ihn die einfachen Menschen, aber er verfügt über keinerlei Erfahrung im politischen Geschäft, und gerade in Haiti gestaltet sich dieses schwer. Die etablierten Parteien lehnen ihn und seine Kandidaten für die Regierung ab. Weil sich Präsident und Parlament nicht auf einen Nachfolger einigen können, regiert noch immer Jean-Max Bellerive von der Konkurrenzpartei Martellys.

Nicht nur gescheitert, sondern auch blockiert

"Auch mit dem gewählten Präsidenten fehlt es weiterhin an allem, was eine Demokratie ausmacht: eine transparente und halbwegs effiziente Verwaltung, die den Wiederaufbau begleiten könnte, eine funktionsfähige Infrastruktur, ein leistungsfähiges Bildungswesen," sagt Stefanie Hanke.

Haiti ist nicht nur gescheitert, sondern auch blockiert. Nur über den Aufbau einer eigenen Infrastruktur und die Wiederherstellung von Ordnung kann die Regierung die Schäden der Naturkatastrophen reparieren und sich für nächsten rüsten. Ein Weg aus dem Katastrophenkreislauf heraus ist jedoch nicht abzusehen. "Vor allem fehlt die für eine Demokratie wichtigste Ressource, nämlich Vertrauen," sagt Hanke, "Vertrauen in die eigenen Eliten, Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der Institutionen, Vertrauen in die eigenen Gestaltungsmöglichkeiten - das ist den Haitianern mittlerweile abhanden gekommen." Das macht das Land für jede Katastrophe umso verwundbarer.

vorwärts.de wird sich in einer Serie den "Failed States" annehmen und schauen, was Deutschland tun kann und sollte. Mehr Informationen unter www.fundforpeace.org

Autor*in
Jérôme Cholet

arbeitet als freier Autor mit Schwerpunkt Afrika, Lateinamerika und Naher Osten.

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