Nach der Frankreich-Wahl: Warum wir jetzt mehr Leidenschaft für Europa brauchen
Die Erleichterung ist groß: Die Französinnen und Franzosen haben am Wochenende Emmanuel Macron zum nächsten Präsidenten der Grande Nation gewählt. Zur Erleichterung gesellt sich aber auch eine nüchterne Erkenntnis: Wir sind verdammt genügsam geworden. Es ist bereits „ein guter Tag für Europa”, wenn die rechtsextreme Nationalistin Marine Le Pen mit „nur” 21,3 Prozent der Stimmen als Zweite in die Stichwahl einzieht und dort mit „nur“ 33,9 Prozent gegen Emmanuel Macron verliert. Waren die Abstände zwischen den demokratischen und den undemokratischen Kräften nicht mal viel größer? Blickten wir nicht mal erwartungsvoller und ungeduldiger in die gemeinsame europäische Zukunft? Wollten wir nicht mal mehr? Viel mehr?
Aktiv gegen Hass und rechte Umtriebe
In Deutschland haben wir nach der Wahl Donald Trumps als US-Präsident eine wahrnehmbare Welle der Politisierung erlebt. Viele, vor allem junge Menschen, fanden den Weg in demokratische Parteien. Das Gefühl, dass alles, was man bisher für selbstverständlich hielt, sehr schnell grundsätzlich gefährdet sein kann, war eine harte Lektion. Die Erfahrung, wie fragil Europa gerade ist, hatte schon einige Monate zuvor der Brexit schmerzlich gezeigt. Doch nach der Nominierung des profilierten Europäers Martin Schulz als SPD-Kanzlerkandidat strömten neue Mitglieder geradezu in die SPD. Sogar so schnell, dass uns in Baden-Württemberg die Parteibücher ausgingen.
Diese Neumitglieder erzählen fast einhellig eine gemeinsame Geschichte: Nach dem Brexit und der US-Wahl war die Zeit vorbei, das politische Geschehen aus der Ferne zu kommentieren. Sie wollten aktiv werden – gegen Hass, gegen rechte Umtriebe, für unsere Werte, für unsere Demokratie und für Europa.
Erneuerung als Wahlmotiv
In Frankreich nun zeigt sich unter den jungen Menschen ein scheinbar zerrüttetes Bild. Viele von ihnen, besonders die 18- bis 24-Jährigen, wählten im ersten Wahlgang überhaupt nicht – oder sie wählten mit Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon „extrem”, wie die ZEIT titelte. Und damit scheinbar gegen Europa. Aber viele Junge haben eben auch im ersten Wahlgang den Proeuropäer Macron gewählt, bei den 25- bis 34-Jährigen sogar mehr als alle anderen Kandidaten. In der Stichwahl am vergangenen Wochenende gewann Emmanuel Macron die jungen Menschen der Altersgruppen 18 bis 24 und 25 bis 35 mit 66 bzw. 60 Prozent eindeutig für sich. Dennoch blieb die Altersklasse der 25- bis 35-Jährigen die zweitstärkste Gruppe der Le Pen-Anhänger. Mehr Zustimmung fand sie nur bei den 35- bis 49-Jährigen.
Hoffnung und Zuwendung, Enttäuschung und Abwendung scheinen in der französischen Jugend in ähnlichem Maße zu existieren. Einige wandten sich dem Protektionismus und der Ausländerfeindlichkeit Le Pens zu, einige dem Isolationismus eines Mélenchon, einige den liberalen Reformversprechen des Neulings Macron – und viele andere wandten sich ganz von der Politik ab.
Wie viel Bekenntnis zu Europa in dem Votum der Französinnen und Franzosen steckt, bleibt Spekulation anlässlich dieser Zahlen: Der verbindende Kitt der Wählerschaft Macrons war das Motiv, Marine Le Pen zu verhindern. 43 Prozent gaben dies als wahlentscheidenden Grund an, für lediglich 16 Prozent war dies Macrons politisches Programm. Bei beiden Kandidaten, Macron und Le Pen, spielte die politische Erneuerung, die sie repräsentieren, eine enorm große Rolle bei der Wahlentscheidung. Bei Le Pen sogar die wichtigste.
Gesucht: Anerkennung und Perspektiven
Für mich drücken diese Bewegungen aus, dass junge Menschen nach etwas suchen. Nach Gehör. Nach Chancen. Nach Anerkennung und Berücksichtigung ihrer Ideale und Perspektiven für die Zukunft. Junge Französinnen und Franzosen leiden unter hoher Arbeitslosigkeit, befristeten Stellen mit schlechten Bedingungen und steigenden Lebenshaltungskosten. Und erfahren dabei nur sehr wenig Solidarität vom politischen und gesellschaftlichen System.
Sie fühlen sich europäischer als jede Generation vor ihnen, doch die Institutionen der EU begegnen ihnen und ihren Altersgenossen in Griechenland, Spanien oder Polen allzu oft nur mit dem strengen Gesicht der Sparpolitik. Sie sehen den wirtschaftlichen und menschlichen Reichtum, den Europa geschaffen hat, und hoffen auf nicht mehr und nicht weniger als ihren gerechten Anteil daran. Für sie selbst und alle, die wie sie sind. Und sie hoffen, dass Politiker und die Gesellschaft diese Wünsche umsetzen: ein soziales und gerechtes Europa mit Perspektiven – auch für sie. Für einen Kontinent, der nicht nur durch Güter und Geld vereint ist, sondern auch durch Freiheit, Demokratie und Solidarität. Kurz: für eine EU der Zukunft und für eine Zukunft der EU.
Soziale Gerechtigkeit statt Austerität
Für dieses Ziel brauchen wir aber auch eine deutsche Bundesregierung, die gewillt ist, Europa in diesem Sinne zu verändern. Statt wie unter Merkel und Schäuble Nationalstaaten gegeneinander auszuspielen und üble Vorurteile auszunutzen, um innenpolitisch taktische Erfolge zu erzielen – oder alternativ durch Nichtstun die EU zerfallen zu lassen – brauchen wir Menschen, die leidenschaftlich für Europa eintreten, für Gerechtigkeit und Wohlstand für Jung und Alt. Die nicht verklärt zurück oder wütend auf vermeintlich Fremde blicken, sondern optimistisch, fordernd und gemeinsam nach vorne. Doch nur wenige Tage nach der französischen Präsidentschaftswahl erteilen Spitzen von CDU und FDP Macrons Vorschlägen für ein vertieftes und solidarisches Europa schon eine Absage. Besser kann man nicht zeigen, dass man aus dem Erstarken der extremen Rechten in Europa nichts gelernt hat.
Und was heißt das für uns? Wir dürfen nicht mehr genügsam sein. Vor allem wir Jungen nicht. Vive la solidarité!