Nach Abfangmanöver: „Belarus wird weiter an Russland gebunden“
imago images/ITAR-TASS
Ein zur Landung gezwungener Flieger, ein regimekritischer Blogger, der nach der Landung festgenommen wurde und schließlich ein Lufthansa-Flieger, der von belarusischen Sicherheitskräften durchsucht wird – was weiß man inzwischen über die Hintergründe der jüngsten Vorkommnisse in Minsk?
Die in beiden Fällen von belarusischer Seite genannten Sicherheitsbedenken sind nicht glaubwürdig belegt worden. Am Montag gaben die belarusischen Behörden als Erklärung für den sicherlich deutlich signifikanteren Vorfall im Zusammenhang mit der zur Landung gezwungenen Ryanairmaschine an, die palästinensische Hamas habe eine Drohmail mit einer Bombendrohung an den Minsker Flughafen geschickt. Ein Hamas-Sprecher dementierte dies. Am Mittwochabend stellte sich zudem heraus, dass die Drohmail erst 24 Minuten nach der Kontaktaufnahme mit dem Ryanair-Piloten in Minsk eingegangen war. Es handelt sich also nachweisbar um einen Fake. Es ergibt auch keinen Sinn: Warum sollte eine solche Drohung ausgerechnet an den Minsker Flughafen gehen und nicht direkt an die Airline oder an den Start- oder Zielflughafen? Immerhin kam die Maschine aus Griechenland und war auf dem Weg nach Litauen. Eine Bombe fand sich im Übrigen nicht. Zudem war zum Zeitpunkt der Abweichung von der geplanten Route der Flughafen in Vilnius wesentlich näher, wäre also bei einer tatsächlichen Bombendrohung die logische Destination gewesen.
Lukaschenko soll höchstpersönlich angeordnet haben, das Ryanairflugzeug mit einem Kampfjet vom Typ MiG-29 nach Minsk zu „geleiten“. Zudem sollen Geheimdienstmitarbeiter*innen an Bord gewesen sein; der in Minsk festgenommene Blogger Pratassewitsch hatte schon vor seinem Abflug aus Athen verdächtige Männer bemerkt.
Ziel der Aktion war eindeutig die Festnahme des in Belarus wegen abstruser Terrorismusvorwürfe gesuchten Bloggers Pratassewitsch. Er war vor allem durch seine führende Rolle bei Telegramkanälen bekannt geworden, die regelmäßig zu Protesten in Belarus aufrufen, aber auch Informationslücken schließen, die durch massive Repressionen gegen unabhängige Medien in Belarus entstanden sind. Pratassewitsch drohen nach jetzigem Stand bis zu 15 Jahre Haft für die Anstiftung von Massenunruhen. Seine Freundin, die russische Staatsbürgerin Sofia Sapega, wird ebenfalls festgehalten. Sie soll zwei Monate in Haft bleiben müssen. Pratassewitsch meldete sich auf staatlichen Telegramkanälen mit zitternder Stimme zu Wort und behauptete, man behandle ihn gut und er kooperiere mit den Behörden.
Der Westen wirft Belarus Staatsterrorismus vor. Am Montag hat der Europäische Rat harte Sanktionen angekündigt. Wie könnten die Folgen aussehen?
Die Reaktion des Europäischen Rates erfolgte bemerkenswert zeitnah, deutlich und einstimmig. Ratsbeschlüsse setzen allerdings nur einen Rahmen. Wie weit man im Einzelnen, vor allem mit Blick auf den Umfang von Sanktionen, de facto gehen wird, ist noch nicht klar. Drei Sanktionspakete sind gegen das belarusische Regime nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen im vergangenen August und der folgenden Polizeigewalt und Einschüchterung bereits auf den Weg gebracht worden. 88 Personen und 7 Unternehmen sind seitdem sanktioniert worden. Ein viertes Paket wird seit Monaten erarbeitet. Es soll nun ausgeweitet werden. Hierbei geht es primär um Sanktionen gegen Individuen, die im direkten Zusammenhang mit Menschenrechtsverletzungen stehen. Die belarusische Demokratiebewegung beklagt seit langem, dass die Sanktionen der EU nicht weit genug gingen. Das ändert sich nun möglicherweise.
Noch bemerkenswerter ist aber, dass der Rat die Weichen dafür gestellt hat, nun auch harte Wirtschaftssanktionen gegen Belarus zu initiieren. Wie die konkret aussehen, ist allerdings noch völlig unklar. Zu erwähnen ist, dass auch die Maßnahmen mit Blick auf den Flugverkehr von, nach und über Belarus wirtschaftliche Auswirkungen haben werden. Belarus wird signifikante wirtschaftliche Einbußen durch fehlende Überflugzölle haben, aber auch große Ausfälle bei der staatlichen Airline Belavia verkraften müssen.
Welche Risiken birgt die faktische Erklärung von Belarus zur „No Fly Zone“?
Wenn tatsächlich alle EU-Airlines der Aufforderung Folge leisten, Belarus nicht mehr anzu fliegen oder zu überfliegen und gleichzeitig der europäische Luftraum für die Staatsairline Belavia gesperrt wird, dann kann dies auch nicht beabsichtigte Konsequenzen haben. Das dürfte der Rat allerdings billigend in Kauf genommen haben, um ein starkes Zeichen zu setzen.
Doch umgekehrt dürfte auch Lukaschenko ein solches Szenario durchgespielt haben, bevor die Anweisung gegeben wurde, die Ryanairmaschine umzuleiten. Die voranschreitende Isolation könnte Lukaschenko trotz ökonomischer Konsequenzen sogar genehm sein. Der gesamte Vorgang lässt sich nicht nur hervorragend zu Propagandazwecken missbrauchen. Wenn sämtliche Wege nach Europa versperrt sind, trifft das auch Belarus*innen, die Freunde und Verwandte in Europa besuchen möchten sowie Fluchtwillige, denen in Belarus die Sicherheitskräfte auf den Fersen sind.
Zudem könnte es auch negative Folgen für die ohnehin starken Repressionen ausgesetzte belarusische Zivilgesellschaft haben. Angesichts schwieriger organisatorischer Voraussetzungen und massiver rechtlicher Einschränkungen sind zivilgesellschaftliche Organisationen häufig auf Reisen ins Ausland angewiesen. Außenminister Makei hatte vor einiger Zeit süffisant prognostiziert, der belarusischen Zivilgesellschaft könne die völlige Auslöschung drohen. Eine (beinahe) Komplettisolation kann einen weiteren Schritt in eine solche Richtung bedeuten.
Nicht zuletzt muss man natürlich konstatieren, dass Belarus weiter an Russland gebunden wird. Lukaschenko hat sich Putin faktisch ausgeliefert und ist auf dessen – auf knallharten eigenen Interessen basierende – Unterstützung dringend angewiesen.
Wie hat Russland reagiert?
Russland hat klargemacht, dass das belarusische Vorgehen aus seiner Sicht gegen keine internationalen Abkommen verstößt. Die berüchtigte Fernsehjournalistin Margarita Simonjan beglückwünschte Lukaschenko gar. Außenminister Lawrow äußerte sich gewählter, verwies aber auf den vermeintlichen „Aufklärungswillen“ der belarusischen Seite.
Außenministeriumssprecherin Sacharowa verwies auch auf die Zwischenlandung des bolivianischen Präsidenten Evo Morales in Wien im Jahr 2013, die bei einer Fahndung nach Edward Snowden erfolgt war. Der Vergleich hinkt allerdings. Die erzwungene Umleitung eines zivilen europäischen Flugzeugs auf dem Weg von einem EU-Mitgliedsland in ein anderes unter dem Vorwand einer falschen Bombendrohung und die anschließende Verhaftung eines Regimekritikers – all das ist präzendenzlos.
Letztlich kommt Moskau der Fall entgegen. Wirtschaftlich schadet der Zwischenfall Belarus bis zu einem gewissen Grad; Russland aber hilft er zunächst einmal. Vereinbarungen mit Belarus könnten bei fortschreitender Isolation des dortigen Regimes leichter und vorteilhafter zu treffen sein. Gleichwohl hängen die Variablen auch dieser Gleichung zumindest ein Stück weit von den weiteren Schritten der EU ab.
Könnte die Festnahme von Pratassewitsch zu einer neuen Welle von Protesten in Belarus führen?
Auch wenn schon jetzt vermehrte lokale Protestaktionen zu sehen sind: Mit neuen Massenprotesten ist eher nicht zu rechnen. Dafür sind die Repressionen im Land einfach zu hart. Lukaschenkos Aktion hat sicher nicht nur Pratassewitschs Verhaftung zum Ziel gehabt, dafür war sie zu aufwendig. Er wird auch ein klares Exempel statuieren wollen: Vor den belarusischen Sicherheitsdiensten seid ihr nirgendwo sicher, so die Botschaft. Nicht einmal in der Luft. Wer gegen Lukaschenko ist, lebt gefährlich. Passend dazu gab es am Dienstag erneut einige hohe Freiheitsstrafen für Oppositionelle, etwa den Politiker Pawel Sewjarynez, der sieben Jahre verbüßen muss. Außerdem wurden unabhängige Medien attackiert.
Natürlich galten die am Montag beschlossenen Maßnahmen auch dem europäischen Selbstschutz: Wer ein europäisches Passagierflugzeug entführt, greift uns alle an. Aber dringender als wir Europäer benötigen diesen Schutz die Menschen, die im direkten Visier Lukaschenkos sind. Gerade weil man die Wirkungsmacht der EU nicht überschätzen sollte, gilt es, sich in vielen dieser Einzelfälle klar zu positionieren, Aufmerksamkeit zu schaffen und zu prüfen, ob man nicht doch in dem ein oder anderen Fall schnelle Hilfe leisten kann. Vielleicht sogar für Raman Pratassewitsch – auch wenn es für diese Vorstellung gerade großen Optimismus braucht.
Die Fragen stellte Olga Vasyltsova.
ist Repräsentant der Friedrich-Ebert-Stiftung für Belarus und Leiter des Regionalbüros „Dialog Osteuropa“ mit Sitz in Kiew.