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Im Rückblick zeigen sie auch die Relativität der jeweiligen Wahrheiten und lassen damit ganz leise, aber unüberhörbare, Zweifel an unseren heutigen Gewissheiten aufkommen. Im achtzehnten und noch mehr im neunzehnten Jahrhundert ist die Zahl der Autoren und Publikationen kaum noch zu überschauen, es sind die glorreichen Zeiten der großen Reisenden und Entdecker.

Unter den Erforschern Afrikas zählt Mungo Park zu den Großen. Name und Person sind zum Mythos geworden. Der Schotte aus Selkirk, mit Walter Scott befreundet, drang in zwei Reisen bis zum Niger vor, auf dem er 1806 zu Tode kam, ohne dass er die Rätsel um den Verlauf des drittlängsten Stromes des schwarzen Kontinentes hätte endgültig lösen können.

Seine erste Reise im Auftrag der britischen Afrikanischen Gesellschaft erregte weltweit Aufsehen. Die Originalausgabe seines Berichts, 1799 in London publiziert, erreichte schnell drei Auflagen. In Deutschland erschienen im selben Jahr gleich zwei Übersetzungen, in Hamburg und Berlin, außerdem eine erste französische Ausgabe in Leipzig.

Im Jahre 1800 folgten Paris, Stockholm und Philadelphia, 1801 Den Haag, dann weitere Auflagen und Ausgaben in kurzen Abständen, ein veritabler Bestseller der damaligen Jahrhundertwende.

Von der zweiten, so tragisch geendeten Reise wusste ich bis dato nur, dass John Whishaw im Jahre 1815 eine Lebensbeschreibung Mungo Parks verfasst und mit weiterem Material unter dem Autorennamen des toten Forschers herausgegeben hatte: "The Journal of a Mission to the Interior of Africa in the Year 1805".

Vor kurzem entdeckte ich im Internet ein weiteres Buch über Mungo Parks zweite Reise - von einem österreichischen Antiquar angeboten - mit dem vielversprechenden Titel: " Neueste und letzte Reise ins Innere von Afrika nebst dem Tode dieses merkwürdigen Reisenden aus seinem Tagebuche und den Relazionen seiner übrig gebliebenen Gefährten niedergelegt bei der afrikanischen Gesellschaft zu London. Herausgegeben und mit Anmerkungen versehen von Harry Wilkens. Vollständige Uebersetzung. Hamburg, Hieronimus Daniel Müller, 1807". In der Beschreibung des Antiquars heißt es: "Erste dt. Ausgabe der zweiten Reise von Mungo Park, welche acht Jahre vor der ersten englischen Ausgabe von 1815 erschien…."

Ich war elektrisiert: eine deutsche Übersetzung eines unbekannten bzw. des erst acht Jahre später in London bei Bulmer gedruckten Textes. Eine Sensation, die alle Lexikoneinträge über den Haufen werfen würde. Also begann ich zu recherchieren. Über den Verleger Hieronimus Daniel Müller, angeblich aus Hamburg, fand ich nichts heraus. Also machte ich mich über den Text her.

Google hat ihn mit Hilfe eines Exemplars der bayerischen Staatsbibliothek digitalisiert und ins Netz gestellt, was mir den kostspieligen Erwerb ersparte. Beim Lesen kam mir schnell die Erleuchtung, dass es sich sowohl bei der Beschreibung des Antiquars, aber vor allem bei dem gesamten Text um eine freihändige Erfindung handelt, eine durchaus unterhaltsame 384 Seiten umfassende Phantasiedarstellung aus bis dahin erschienenen Werken kompiliert und mit eigenen Einfällen garniert.

Es beginnt mit einem gedrechselten Vorwort des "Übersetzers", darauf folgt die Vorrede aus dem angeblichen englischen Original, in der die Aktivitäten der britischen Afrikanischen Gesellschaft in Afrika gepriesen werden und ganz nebenbei der Sklavenhandel nicht nur verharmlost, sondern geradezu gerechtfertigt wird: "Ich glaube demnach, die Frage sey nicht schwer zu entscheiden, welches besser sey, frei in der Wüste mit Frau und Kindern zu verhungern, oder gegen freiwillige Verzichtleistung auf eine wirklich nutz- und zwecklose Freiheit sein Leben zu erhalten." (XII)

Das erste Kapitel macht "medizinische Bemerkungen über Afrika". Ab dem zweiten Kapitel wird ausführlich - weit mehr als die Hälfte des gesamten Bandes füllend - über Ägypten, die östliche Sahara, Abessinien, Somalia und die dort lebenden Völker berichtet. Diese Gegenden des Kontinents hatte Mungo Park nie bereist, wohl aber sein Landsmann James Bruce, der zwölf Jahre nach den Quellen des Nils suchte und 1790 ein voluminöses Werk über seine Reisen veröffentlicht hatte - übrigens auch ein großer Verkaufserfolg, mehrfach aufgelegt und ins Deutsche und Französische übersetzt. Von Bruce angeregt, forschte George William Browne 1793 in Ägypten und anderen Teilen Ostafrikas. Sein Bericht erschien 1800 in Deutschland als Band 1 der neuesten Reisebeschreibungen in Weimar. Bruce, Browne und der Orientalist und Universitätsbibliothekar in Helmstedt, Paul Jakob Bruns, sind wohl die Quellen, aus denen fast das gesamte Buch zusammengestellt wurde.

Sollte diese Hochstapelei niemandem in der damaligen Zeit aufgefallen sein, sollte sie den an der Encyclopédie geschulten Augen der Kritiker entgangen sein? Auch hier half Google. Ich fand eine Rezension aus dem Juni 1808, in der " Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung", mit der Absicht, "dem vorgeblichen Übersetzer die Larve abzureissen und ihn als einen schändlichen Betrüger der Verachtung des Publicums Preis zu geben". Und weiter: "Dass von all diesem nicht das Mindeste wahr sey, kein englisches Original, kein Tagebuch Mungo Parks, keine Bemerkungen seiner Reisegefährten existieren, sondern das Ganze eine sehr plumpe Erdichtung, und das Werk eines elenden Scribenten sey, wird diese Rezension auf eine einleitende Art zeigen."

Im Anschluss werden tatsächlich akribisch genau die Textstellen, die bei Browne und bei Paul Jakob Bruns "Erdbeschreibung von Afrika" geklaut waren, aufgelistet. Wer aber hat damals die Literaturzeitung bezogen? Und dann auch noch gelesen?

Bei genauerem Studieren stieß ich auf Passagen, die einen eigenen Stil verrieten und Fabulierlust erkennen ließen, mehr waren als nur Galimathias, wie der Rezensent geurteilt hatte. Wohl der amüsanteste Teil des Machwerks ist der abrupte Szenenwechsel vom östlichen Afrika ganz hinüber in den Westen des Kontinents. Auf Seite 215 befindet sich der falsche Mungo Park noch am Indischen Ozean, irgendwie musste er endlich die Kurve nach Westafrika kriegen.

Der Autor wusste, wie: "Ich rückte meinem fürchterlichen Plan näher, das Innere des Landes kennen zu lernen." Und dann hebt er zu einer großen Rede an, mit der er seine zögernden Mitreisenden zum weiteren Vordringen animieren will, um unbekannte Gebiete zu erreichen: "…Nein, edle Britten, nein Söhne des Vaterlandes einer großen unbesiegten Nazion! Jetzt gilt es Ruhm und Lorbeeren zu erndten, jetzt oder nimmer müssen die Schleier zerrissen werden, welche das Innere dieses Welttheils seit den Jahrtausenden, die die Welt zählt, umhüllen.

Das Innere von Afrika sey nicht mehr unbekannt, nicht mehr das Land der Fabel, und der Tummelplatz lügenhafter Reiseschreiber…." schwadroniert er und fährt mit dem patriotisch flammenden Appell fort: "Britten! Die ihr alles durch den mächtigen Trieb der Ehre thatet, die ihr Amerika erobert, die Welt umschifftet, Indien zu einer unterwürfigen Provinz machtet, neue Planeten entdecktet - ihr bebt vor einer Fußreise zurück, weil Euch der Athem enge wird, weil eure Nasen bluten…"

Einige Seiten weiter hat er die Bedenken seiner Begleiter wegargumentiert, übersteht listig eine versuchte Meuterei und sieht sich innerhalb von zwei Wochen "durch schreckliche und öde Wüsten" nach Senegambien versetzt. Von da an wird Paul Jakob Bruns ausgiebig geplündert und mit seinen Texten die Länder an der Westküste beschrieben, Guinea, Sierra Leone und Freetown, Liberia, Elfenbeinküste, Goldküste und Benin. An der Goldküste angelangt, weit weg vom Niger, wird dann phantasievoll über das Ende von Mungo Park fabuliert, und das in der Ich-Form. Vom damals dänischen Christiansborg, heute Ghanas Hauptstadt Accra, marschierte die Gruppe angeblich unter Mungo Parks Führung ins Landesinnere. Nach einer weiteren Meuterei teilt er uns mit, dass er alleine weitergezogen sei.

Dann folgt die knappe Nachschrift seiner Begleiter, in der es u. a. heißt: "…fanden wir seine blutige Leiche in einem Felsenthale. Er war von allen Kleidungsstücken beraubt und allen Anzeigen nach mit Keulen vor den Kopf geschlagen, denn seine Hirnschale war bei genauer Untersuchung zerschmettert…". Nichts davon ist wahr. Viele Hinweise und Angaben über die angeblich bereisten Länder, soweit abgeschrieben, stimmen durchaus, mit Mungo Park aber hat das alles nichts zu tun.

Wie ist dieses Phänomen zu deuten? Es war der gleiche Mechanismus, der auch heute vielfach eine kleine Story mit irgendeinem Bezug zur aktuellen Prominenz, sei es mit Hilfe eines Vorworts, sei es durch blanke Erfindung, zu adeln und vor allem besser zu verkaufen sucht. Was passt da besser als der Satz auf Seite 227: "…nur genießen, nur erndten wollen die kleinen Menschen unseres Zeitalters, und da am liebsten, wo sie nicht gesäet haben."




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Autor*in
Reinhard Klimmt

war von 1998 bis 1999 Ministerpräsident des Saarlandes und von 1999 bis 2000 Bundesminister für Verkehr, Bau und Wohnungswesen.

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