Dieses europäische Elend können viele Menschen in Ghana nicht mit ansehen: ein Leben als Erwachsener ohne emotionale Bindung! Das Projekt „Adopted“ vermittelt ihnen Kandidaten für Patenschaften – vorerst symbolischer Natur. Gestartet wurde es von der Konzeptkünstlerin und Filmemacherin Gudrun Widlok. Wie aus dem Spiel mit der Utopie ein Dokumentarfilm wurde, erklärt sie im Interview.
vorwärts.de: Über Ihren Film haben Sie gesagt, er sei „der Versuch, die Utopie zu bebildern“: Worin besteht die Utopie hinter „Adopted“ jenseits des Experiments?
Gudrun Widlok: Das Kunstprojekt „Adopted“ an sich ist für mich die Utopie. Hervorgegangen aus einer fiktiven Idee: Großfamilien in Afrika übernehmen Patenschaften für erwachsene Europäer. Das ist die Utopie! Durch echte Teilnahmeabsichten ist das Realität geworden, ist aus der anfänglichen Vision etwas Neues entstanden. Aber es bleibt auch weiterhin eine Vision. Im Film zeigen wir das "Was wäre, wenn".
In welchen Szenen ist jene Bebilderung gelungen – und was sehen wir darin?
Wir wollten zeigen, wie es aussehen könnte, wenn aus der Vision Realität wird. Ich denke nicht, dass es an einzelnen Bildern liegt, sondern der gesamte Film als Bebilderung zu sehen ist. Das Wort „gelungen“ würde ich so nicht verwenden. Die einzelnen Geschichten sind unterschiedlich. Wahrscheinlich würde in der reinen Utopie alles ganz harmonisch und geschmeidig ausgehen. Aber wir haben eine dokumentarische Form des Erzählens gewählt und Protagonisten, die sich tatsächlich vorstellen konnten, das Ganze mit allen Konsequenzen durchzuziehen. Das bedeutet, dass sie ihre eigenen Vorstellungen mitbringen. So entstehen ungeplante, neue Bilder. Im Schnitt konnten wir auswählen, was für uns die Geschichte wird, die wir erzählen wollen. So wie es geworden ist, ist es ehrlich und ich denke, auch der Utopie entsprechend.
„Ich arbeite mit Klischees und mich interessiert, wo das Klischee bricht.“ So beschreiben Sie Ihre generelle Arbeitsweise als Künstlerin. Welche Klischees bricht Ihr Film – und mit welchen Mitteln?
Das kommt ganz auf den Betrachter an. Was erwartet eine Person? Was für ein Bild, eine Vorstellung hat jemand von Afrika? Wie stelle ich mir eine typische Familie in Ghana vor? Hüttendorf oder Villa? Uni oder Dorfschule?Die in Europa vorherrschenden Klischees sind täglich in den Medien zu verfolgen. Afrika wird romantisiert oder bemitleidet. Ähnliches passiert umgekehrt: Es gibt jede Menge Vorstellungen, die aus dem Klischee vom reichen, zufriedenen Weißen hervorgehen. Ich glaube nicht, dass der Film Klischees bricht, das war auch nicht unser Anliegen. Er bietet einen Blick in eine private Welt, in ein alltägliches Leben, das durch das Aufeinandertreffen der einzelnen Menschen eine Veränderung erfährt.
Gesellige Afrikaner in Großfamilien und letztendlich auf Individualität bedachte Europäer wie die Adoptions-Kandidatinnen Gisela und Thelma: Als Zuschauer hat man den Eindruck, die Begegnung zwischen den Kulturen im Film bestätigt sämtliche Klischees.
Kann schon sein, aber Klischees sind schließlich der Realität entsprungen! Es geht nicht darum zu zeigen, jetzt wird alles besser und anders. Was wir zeigen ist das, was tatsächlich geschieht. Eine Vision sieht in der Realität anders aus. Der Film behandelt genau diesen Aspekt: Was die einzelnen Teilnehmer von der Aktion erwarten. Ihre Vorstellungen und Hoffnungen weichen zum Teil sehr ab von dem, was sie erleben.
Gisela und Thelma sehnen sich nach der Ghana-Reise nach Abgeschiedenheit, vor der sie einst geflohen waren. Ludger dagegen bleibt. Welche Charaktereigenschaften und welche Herangehensweise begünstigen eine „erfolgreiche“ Adoption? Kann sich Naivität am Ende rächen?
Ich denke nicht, dass das an Charaktereigenschaften festzumachen ist. Es kommt darauf an, wem man begegnet, was man erlebt. Natürlich könnte man es sich leicht machen und „Offenheit“ als Voraussetzung nennen. Dann aber merken wir, dass es das allein nicht sein kann. Naivität ist nicht unbedingt negativ zu sehen. Ich würde es eher unbefangen nennen. Es kann durchaus sein, dass gerade jemand, der unvoreingenommen an eine Sache herangeht, damit sehr erfolgreich ist.
Was haben die drei Probanden aus Afrika mitgenommen? Wie geht ihre Geschichte weiter?
Das wäre Material für einen weiteren Film. Für uns war es wichtig, genau an dem Punkt aufzuhören, an dem der Film endet. Wir wollten nicht alles auserzählen. Gerade diese ungeklärten Momente sollen die Möglichkeit eröffnen, die Vision weiterzudenken.
Was bewog die ghanaischen Gastfamilien, sich an dem Projekt zu beteiligen?
Wendy und Maxwell sagen es selbst: Sie beobachten mit Unverständnis, dass alte Menschen getrennt von ihren Familien in Heimen wohnen, dass die Kinder sich nicht um sie kümmern.Sie wollen gerne noch eine Grandma in der Familie haben. Allen drei Familien geht es ganz klar darum, sich auszutauschen, zu kommunizieren. Die Chance zu haben, mehr zu erfahren. Um eine geistige Bereicherung. Eine weitere Person in der Familie bringt neue Erlebnisse mit sich.
Um Klischees umzudrehen, folgte das Kunstprojekt „Adopted“ auch einer ironischen Motivation. Warum ist das dem Film kaum anzumerken? Dessen Ansatz wirkt eher klassisch dokumentarisch.
Gerade, weil die Idee ungewöhnlich in sich ist, wollten wir den Film nicht unnötig mit Witz aufpeppen. Die Wahl des Stils hat direkt damit zu tun. Er wirft auch so eine Menge Fragen auf, nach den Vorstellungen gab es lange Gespräche. Es wäre irritierend, wenn wir bei der Stilfrage zusätzlich Verwirrung stiften würden. Gerade durch die präzise Arbeit von Kamera, Ton und Schnitt konzentrieren wir uns auf die Ereignisse.
Kunstprojekt, Organisation, Film: Welche weiteren Metamorphosen schweben Ihnen für „Adopted“ vor?
Der Plan war immer gewesen, einen Film zu machen. Für mich als Künstlerin ist die inhaltliche Arbeit an „Adopted“ damit zu Ende gegangen. Ich habe mit neuen Projekten begonnen.
Mehr zum Projekt, dem Film und der laufenden Kino-Tour unter www.adopted.de