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Mindestlohn in Europa: So funktioniert die neue EU-Richtlinie

Mehr als 20 Millionen Menschen in Europa sind von Armut bedroht. Eine neue EU-Richtlinie soll dafür sorgen, dass der Mindestlohn steigt und auch die Tarifbindung. Wie das funktioniert, erklärt die SPD-Europaabgeordnete Gaby Bischoff im Interview.
von Vera Rosigkeit · 26. September 2022
Mindestlohn in Europa
Mindestlohn in Europa

Die Mehrheit der europäischen Abgeordneten hat Mitte September für eine neue EU-Mindestlohnrichtlinie gestimmt. Wie viele Arbeitnehmer*innen werden von der Richtlinie profitieren?

Mehr als 20 Millionen Menschen in Europa sind von Armut bedroht, obwohl sie arbeiten. In 21 EU-Staaten gibt es gesetzliche Mindestlöhne - 18 davon sind jetzt angehalten, diese nach oben anzupassen. Die Richtlinie zielt nicht darauf ab, einen einheitlichen Mindestlohn festzulegen. Sie setzt gemeinsame europäische Standards für die Berechnung von armutsfesten Mindestlöhnen.

Welche Länder haben bereits einen Mindestlohn, welche nicht?

Dänemark, Finnland, Schweden und Österreich definieren ihre unteren Lohngrenzen über Tarifverträge. Alle anderen EU-Staaten regeln diese durch gesetzliche Mindestlöhne. Das Problem ist jedoch, dass einige Länder einen sehr niedrigen Mindestlohn haben, der kaum zum Leben ausreicht. Die Spannbreite reicht von 332,34 Euro monatlich in Bulgarien bis 2.256,95 Euro in Luxemburg.  

Müssen alle Länder einen Mindestlohn einführen?

Nein, die skandinavischen Länder und Österreich haben starke Gewerkschaften und eine hohe Tarifbindungsquote. Die überwiegende Mehrheit der Arbeitnehmer*innen profitiert dort von Tariflöhnen oberhalb des Mindestlohnniveaus. Deswegen hatten Dänemark und Schweden Vorbehalte gegen die Richtlinie vorgebracht. Diese Bedenken wurden aufgegriffen und sichergestellt, dass sie nicht direkt oder indirekt gezwungen werden können, Mindestlöhne einzuführen. Im Gegenteil: die Richtlinie zielt darauf ab, die Tarifbindung in den Ländern zu stärken, wo sie unter 80 Prozent liegt. Das ist beispielsweise in Deutschland der Fall.

Was regelt die Richtlinie?

Die EU gibt den Mitgliedstaaten unterschiedliche Möglichkeiten, die Höhe des Mindestlohns zu bestimmen. Die lokale Kaufkraft, das Lohnniveau, die Lohnverteilung, die Lohnwachstumsraten und die nationale Produktivität sind Faktoren, die den Mindestlohn beeinflussen können. Als europäische Sozialdemokratie haben wir erreicht, das folgende Kriterien in der Richtlinie festgehalten werden: der Mindestlohn eines Landes sollte mindestens 60 Prozent des nationalen Bruttomedianlohns bzw. 50 Prozent des Bruttodurchschnittslohns betragen. Die Forschung geht davon aus, dass das die Mindestanforderung für einen existenzsichernden Lohn ist. 

Was hat es mit den nationalen Aktionsplänen auf sich?

Wenn die Tarifbindung in einem EU-Staat unter 80 Prozent liegt, muss die Regierung einen Aktionsplan aufstellen, damit Schritt für Schritt mehr Arbeitnehmer*innen von Tarifverträgen profitieren können. Der Aktionsplan muss konkrete Maßnahmen und Zeitvorgaben enthalten. Die EU-Staaten können die Aktionspläne frei gestalten, um sicherzustellen, dass die nationalen Besonderheiten berücksichtigt werden. Die Maßnahmen könnten zum Beispiel Folgendes beinhalten:

  • Sicherstellung des Rechts auf Tarifverhandlungen für alle Kategorien von Beschäftigten (einschließlich atypisch Beschäftigter)
  • Bereitstellung oder Stärkung von Mechanismen zur Ausweitung von (branchenübergreifenden) Tarifverträgen
  • Verhinderung gewerkschaftsfeindlicher Schikanen, wie etwa Repressalien der Arbeitgeber*innen gegen Beschäftigte, die sich für faire Löhne einsetzen oder ihr Recht auf gewerkschaftliche Organisierung wahrnehmen
  • Sicherstellung, dass öffentliche Beschaffungsverfahren die Einhaltung des Rechts auf Tarifverhandlungen unterstützen.

Wie verbindlich ist die Richtlinie?

Die EU darf den Mitgliedstaaten weder einen gemeinsamen europäischen Mindestlohn vorschreiben noch die Höhe nationaler Mindestlöhne festlegen, dass würde gegen die Europäischen Verträge verstoßen. Die Richtlinie legt gemeinsame Berechnungs- und Statistikstandards fest und setzt einen wichtigen politischen Impuls. Bisher sind viele Versuche, gemeinsame Standards auf europäischer Ebene zu schaffen, im Sand verlaufen. Diese Richtlinie ist deshalb ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem wirklich sozialen Europa.

Wie wird kontrolliert, dass die Richtlinie umgesetzt wird?

Die Richtlinie ist eines der stärksten politischen Instrumente der EU. Mitgliedstaaten sind verpflichtet, sie umzusetzen. Es ist die Aufgabe der EU-Kommission die Umsetzung der Richtlinie zu kontrollieren. Die Kommission kann ein förmliches Vertragsverletzungsverfahren gegen Länder einleiten, die das EU-Recht nicht umsetzen. Außerdem werden die Aktionspläne zur Stärkung der Tarifbindung von der Kommission mindestens alle fünf Jahre überprüft.

Wie ist der zeitliche Fahrplan?

Die EU-Staaten haben zwei Jahre Zeit, die Richtlinie über angemessene Mindestlöhne umzusetzen. Mit Blick auf die explodierenden Preise für Energie und Lebensmittel, würde ich mir allerdings deutlich mehr Tempo wünschen. Wir brauchen einen Wettbewerb um die schnellste Umsetzung der Richtlinie, damit die Europäer*innen bald mehr Geld in den Taschen haben.

 

- Dieses Interview wurde schriftlich geführt -

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Vera Rosigkeit

hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.

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