Militärputsch in der Türkei: „Dieser Versuch war sehr dilettantisch“
Das Verhältnis zwischen dem türkischen Präsidenten Erdogan und dem Militär galt schon länger als schwierig. Trotzdem hat der Putsch jetzt viele überrascht. Sie auch?
Mit einem Putschversuch dieses Ausmaßes habe ich nicht gerechnet. Allerdings überrascht er mich auch nicht vollkommen. In letzter Zeit haben sich die Anzeichen über ein zunehmendes Unbehangen innerhalb des türkischen Militäts gemehrt. Vor allem die Nähe des Generalstabschefs zu Präsident Erdogan ist vielen unteren Diensrängen ein Dorn im Auge. Deshalb habe ich schon damit gerechnet, dass irgendwann von einigen Offizieren etwas kommen könnte.
Der Putschversucht ist also eher eine innermilitärische Angelegenheit?
Ich denke, auch. Wenn ich mir ansehe, wie der Putschversuch abgelaufen ist, habe ich schon Zweifel, ob die Putschisten tatsächlich auf eine Machtübernahe im ganzen Land ausgewesen sind. Für mich wirkt es eher so, dass ein Teil des Militärs einen anderen loswerden wollte.
Sie glauben also auch nicht daran, dass die „Gülen“-Bewegung hinter dem Putschversuch steckt?
Diese Vermutung war für mich von Anfang an sehr unwahrscheinlich. Niemand kann sagen, wie stark die Gülenisten innerhalb der Armee überhaupt sind. Ihr Einfluss soll innerhalb der türkischen Polizei deutlich größer sein. Auf mich wirkt der Vorwurf der Verstrickung eher wie ein Vorwand, um noch stärker gegen die Gülen-Bewebung vorgehen zu können.
Das Miltär hat in der türkischen Geschichte schon öfter gegen die Regierung geputscht. Ist der aktuelle Versuch mit den bisherigen vergleichbar?
Ich denke nicht. Dieser Versuch war sehr dilettantisch – wahrscheinlich, weil er nun von einer kleinen Gruppe innerhalb des Militärs organisiert und getragen worden ist. Es stimmt aber, dass es nicht nur die drei Putsche 1960, 1971 und 1980 gegeben hat, von denen jetzt immer die Rede ist. Das Militär hat auch darüber hinaus Putschversuche unternommen, die nicht erfolgreich gewesen sind.
Das Volk und auch die anderen Parteien haben sich sofort auf die Seite Erdogans gestellt. Wie bewerten Sie das?
Ich denke, das war taktisch eine gute Entscheidung. Wenn sich die Opposition auf die Seite der Putschisten geschlagen hätte, hätte Erdogan leichtes Spiel gehabt und hätte viel härter gegen sie vorgehen können. Die Opposition hat ihm die Möglichkeit genommen, sie zum Feindbild zu erklären. Allerdings macht mir Erdogans Erklärung, der Putsch sei ein „Geschenk Gottes“ etwas Angst. Aus meiner Sicht deutet das auf weitere Repressionen hin.
Welche Folgen könnte das haben?
Der Kreis der Unzufriedenen – vor allem innerhalb der Armee – könnte weiter wachsen. Wenn die Militärs befürchten müssen, verhaftet zu werden, könnten sie das Gefühl bekommen, mit dem Rücken zur Wand zu stehen. Das könnte zu Kurzschlussreaktionen führen. Ein weiterer Putschversuch aus Verzweiflung ist dann nicht ausgeschlossen.
node:vw-infobox
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.