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Michael Roth: „Das Thema Rechtsstaatlichkeit gehört zum Wesenskern der EU.“

Die Bundesregierung will während ihrer Ratspräsidentschaft die Rechtsstaatlichkeit in der EU stärken. Wichtiges Instrument dafür ist der „Rechtsstaatscheck“. Europastaatsminister Michael Roth erklärt, wie er funktioniert und warum alle EU-Staaten gleich behandelt werden.
von Kai Doering · 16. November 2020
Europastaatsminister Michael Roth: Rechtsstaatlichkeit ist mehr als ein Wert von vielen – sie ist die Garantie für all unsere Grundwerte und Freiheiten.
Europastaatsminister Michael Roth: Rechtsstaatlichkeit ist mehr als ein Wert von vielen – sie ist die Garantie für all unsere Grundwerte und Freiheiten.

Über Rechtsstaatlichkeit wird schon lange in der EU gesprochen. Im Großen und Ganzen hat man Regierungen wie in Polen und Ungarn aber mehr oder weniger gewähren lassen. Wieso kommen Rechtsstaatscheck und Rechtsstaatskonditionalität gerade jetzt?

Widerspruch! Es laufen bereits viele Verfahren beim Europäischen Gerichtshof gegen beide Länder. Inzwischen gibt es Gerichtsurteile, die beispielsweise Einschränkungen der Unabhängigkeit der Justiz in Polen und der Wissenschaftsfreiheit in Ungarn feststellen. Es laufen auch sogenannte „Artikel 7-Verfahren“ gegen sie, weil wir der Meinung sind, dass Grundwerte der EU dort in erheblicher Gefahr sind. Und die jüngst von Orbán angekündigten Verfassungsänderungen, um Rechte von LGBTIQ Familien massiv zu beschränken, sind in der EU und vonseiten der Europäischen Kommission deutlich kritisiert worden. Aber wir haben eben auch festgestellt, dass wir unseren Instrumentenkasten zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit in der EU noch erweitern müssen.

Als EU-Ratspräsidentschaft hat sich Deutschland, insbesondere auf Druck der Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in der Bundesregierung, dazu verpflichtet, die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit zu einer Priorität zu machen und neue Instrumente auf den Weg zu bringen. Hier liefern wir jetzt. Denn die Rechtsstaatlichkeit ist mehr als ein Wert von vielen – sie ist die Garantie für all unsere Grundwerte und Freiheiten. Demokratie und Rechtsstaat sind untrennbar verbunden.

Welche Länder stehen aus Ihrer Sicht zurzeit besonders im Fokus?

Die Kernidee des Rechtsstaatschecks ist es ja, alle Mitgliedstaaten gleich zu behandeln und sie zu überprüfen. Denn nirgendwo ist alles perfekt, und wir können alle gegenseitig voneinander etwas lernen.

Unser Rechtsstaatscheck besteht aus zwei Elementen: Einmal sprechen wir über die generelle Lage der Rechtsstaatlichkeit in der EU, das haben wir beim vergangenen Rat im Oktober gemacht. Aber der zweite Teil ist das wirklich Neue am Dialog: Wir wollen über die Lage der Rechtsstaatlichkeit in jedem einzelnen Mitgliedstaat sprechen. Und zwar der Reihe nach. Ausnahmslos. Das gab es so noch nie in der EU. Die Gleichberechtigung aller Länder ist uns dabei wichtig. Aber das heißt natürlich nicht, dass es in allen Ländern gleich gut um die Rechtsstaatlichkeit bestellt ist. Die Unterschiede werden natürlich klar zutage kommen und auch deutlich benannt. Es ist ein Dialog, offen, kritisch, aber eben auch konstruktiv!

Der Rechtsstaatscheck soll mit keinerlei Strafen verbunden sein. Was kann er dann überhaupt leisten?

Der Rechtsstaatsdialog ist nun ein weiteres Instrument, um endlich wieder zu einem gemeinsamen Verständnis der Rechtsstaatlichkeit zu kommen. Denn das Thema Rechtsstaatlichkeit gehört zum Wesenskern der EU. Es spaltet uns derzeit, muss uns aber einen, will die EU als Werte- und Rechtsgemeinschaft wirklich ernstgenommen werden. Wir wollen aber wieder zu einem kooperativen und konstruktiven Verhältnis unter Partnern kommen. Der neue Dialog ist präventiv ausgelegt. Er soll also wachrütteln, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist. Wir sorgen als EU-Ratspräsidentschaft dafür, dass das Thema Rechtsstaatlichkeit kontinuierlich ganz oben auf der europäischen Tagesordnung bleibt. Denn nur so stärken wir europäische Werte nach innen und können glaubwürdig unsere Werte nach außen vertreten.

Alle sechs Monate sollen fünf Staaten dem Check auf Grundlage eines Berichts der Kommission unterzogen werden. Jedes Land wird also etwa alle zweieinhalb Jahre überprüft. Reicht das aus?

Das werden wir sehen. Aber hier gilt Gründlichkeit vor Schnelligkeit: Würden wir alle 27 Mitgliedstaaten in einer Ministerratssitzung besprechen, wäre das zwangsläufig oberflächlicher und weniger wirksam. Stattdessen wollen wir eine detaillierte Diskussion über jedes Land führen. Wir beginnen nun in alphabetischer Reihenfolge mit Belgien, Bulgarien, der Tschechischen Republik, Dänemark und Estland. So können wir auf jedes Land einen sehr präzisen Blick werfen, die Eigenheiten verstehen und vielleicht sogar etwas daraus lernen und es bei uns noch besser machen. Estland hat uns in Sachen Digitalisierung der Justiz bestimmt einiges voraus. Und wir können auch frühzeitig erkennen, wo sich etwas Problematisches entwickelt. Noch einmal: Der Check soll präventiv wirken.

Welche Rolle spielt der Rechtsstaatscheck im Zusammenspiel mit der Möglichkeit, bei Rechtsstaatsverstößen, EU-Gelder zu kürzen?

Das sind zwei Instrumente,  die wir als Ratspräsidentschaft erstmals einführen werden. Ein toller Erfolg! Aber es sind ganz unterschiedliche Instrumente, die sich ergänzen. Der neue Rechtsstaatsmechanismus soll greifen, wenn Staaten die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit verletzt haben. Die EU-Kommission macht einen Vorschlag, der dann vom Ministerrat mit qualifizierter Mehrheit, also 15 Staaten, die mehr als 65 Prozent der Bevölkerung repräsentieren, beschlossen wird. Das kann dann für die jeweiligen Länder der betroffenen Staaten ziemlich schmerzhaft sein.

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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