Merkel-Abschied: Die Beziehungen zur Türkei brauchen einen Neustart
imago images/ZUMA Wire
Die Istanbuler Nachbarin ruft von ihrem Balkon herab: „Eure Merkel geht doch bald in Rente – könnt ihr sie nicht zu uns schicken, damit sie unser Land führt?“ Die säkular ausgerichtete Rentnerin und einstige Bankangestellte lacht. Einige Tage später schaut ein regierungsnaher Istanbuler Taxifahrer in seinen Rückspiegel. „Die Merkel kommt schon wieder? Ganz klar, die liebt den Erdoğan sehr!“ Dann lobt er Merkels Leistungen, wie sie Deutschland zum Motor der EU gemacht habe.
Die Bundeskanzlerin wird in vielen türkischen Kreisen und über Parteigrenzen hinweg verehrt. Ihr wird hoch angerechnet, dass sie den Dialog nie abgebrochen hat, während andere europäische Politiker*innen mit Anti-Türkei-Rhetorik auf Stimmenfang gingen. Aber es gibt auch vereinzelte kritische Stimmen. Vor allem türkische Regierungsgegner*innen haben nicht vergessen, dass Merkel stets gegen einen EU-Beitritt der Türkei war, auch schon in Erdoğans moderaten Anfangsjahren. Während ihr Vorgänger Schröder sich stets für einen EU-Beitritt der Türkei eingesetzt hatte und der Prozess dem Land einen demokratischen, kulturellen und wirtschaftlichen Boom bescherte, verprellte und enttäuschte Merkels Forderung nach einer lediglich „privilegierten Partnerschaft“ Millionen von Türken*innen. Ebenso kritisieren viele, dass sich Merkel seit 2016 durch den Flüchtlingsdeal von Erdoğan abhängig machte und Menschenrechtsverletzungen nur noch zaghaft anprangert.
Steht der EU-Flüchtlingspakt vor dem Aus?
Die Flüchtlingsfragen wird erneut das Hauptthema sein, wenn sich Merkel am Samstag in Istanbul mit Erdoğan trifft. Die Türkei hat ihre Politik der offenen Türen für Flüchtlinge längst beendet, baut eine Mauer an seiner Grenze zum Iran, hat schon länger eine an ihrer Grenze zu Syrien. Die EU schottet sich ohnehin ab. Beim EU-Gipfel Ende Oktober sollte eigentlich eine Verlängerung des Flüchtlingsdeals mit der Türkei auf der Agenda stehen. In der türkischen Bevölkerung herrscht dafür allerdings wenig Zustimmung.
Vier Millionen registrierte und geschätzt eine Million unregistrierte Flüchtlinge leben in der Türkei, die Fremdenfeindlichkeit steigt kontinuierlich. Angesichts erwartbarer neuer Flüchtlingsströme aus Afghanistan betonte Ankara in den letzten Monaten immer wieder: „Wir sind nicht das Flüchtlingscamp der EU!“ Man setzt auf andere Wege: am Donnerstag war eine Taliban-Delegation auf Staatsbesuch in Ankara. Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu versprach Hilfspakete an Afghanistan und ermahnte dabei, dass die Taliban Mädchen Schulbildung und Frauen das Nachgehen eines Berufes ermöglichen sollten. Die türkische Opposition kritisierte, dass Ankara damit die Taliban de Facto anerkannt habe.
Türkei behält Vermittlerrolle in der Nato
Fakt ist aber auch, dass die Türkei als muslimisches NATO-Land eine wichtige Vermittlerrolle spielen kann. Im Mittleren Osten oder im Kaukasus hat sich die Türkei zum wichtigen Akteur entwickelt. Dabei hat sich Erdoğan mit seiner aggressiven Außenpolitik nicht gerade Freunde gemacht hat. In Nordsyrien steigen die Spannungen zwischen türkischen und russischen Streitkräften, im Mittelmeer schwelt der Konflikt mit dem Nachbar Griechenland.
Deutschland und die ganze EU wissen: um die Türkei kommt man nicht herum. Daher braucht die neue Bundesregierung endlich eine langfristige Strategie für ihre Beziehungen zu Ankara. Die SPD verliert in ihrem Wahlprogramm nur wenige Sätze zur Türkei. Darin zeigt man sich besorgt um den innen- und außenpolitischen Kurs der türkischen Regierung: „Die Türkei muss rechtstaatliche, demokratische und völkerrechtliche Prinzipien einhalten. Eine Intensivierung des EU-Türkei-Dialogs, der auch diese Fragen kritisch erörtert, ist dringend notwendig“, so heißt es im Programm. Wie das umgesetzt werden soll, bleibt offen.
Grüne und FDP dagegen gehen in ihrem Wahlprogramm wesentlich detaillierter auf das Thema ein. Beide Parteien betonen die Wichtigkeit der Beziehungen zur Türkei aus wirtschaftlichen, strategischen oder kulturellen Gründen und auch aufgrund der Millionen von türkischstämmigen Menschen in der Bundesrepublik. Beide leiten daraus allerdings unterschiedliche Strategien ab: die Grünen wollen die EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei wieder aufnehmen, die Liberalen wollen sie abbrechen.
Alle drei Parteien hingegen sind sich einig, dass Flucht und Migration in die EU neu und gerechter geregelt werden müsse. Sollte es tatsächlich zu einer Reform des EU-Einwanderungsrechtes kommen, würde das die Beziehungen zur Türkei maßgeblich beeinflussen.
Spannungen in der Türkei: Erdoğan braucht die EU
Gedanken sollte sich eine neue Bundesregierung auch über die Aktualisierung der Zoll-Union mit der Türkei machen. Das wurde dem Land seit Jahren in Aussicht gestellt, aber wegen der desolaten Menschenrechtslage in der Türkei immer wieder auf Eis gelegt. Für die Türkei hätte das große Bedeutung. Wirtschaftlich geht sie seit Jahren durch eine tiefe Krise, die türkische Lira befindet sich in dieser Woche wieder im freien Fall. Die Arbeitslosigkeit liegt offiziell bei 12 Prozent, die Inflation bei knapp 20 Prozent. Viele türkische Bürger träumen selbst davon, in die EU auszuwandern. Die Gebildeten und Wohlhabenden unter ihnen ziehen zum Studium nach Deutschland, die Ärmeren füllen Flüchtlingsboote im Mittelmeer.
So wundert es kaum, dass Erdoğans AKP und sein ultrarechter Bündnispartner MHP in Umfragen seit Monaten keine absolute Mehrheit mehr erreichen. Der Staatspräsident wirkt seit Monaten müde und angeschlagen, Gerüchte über seinen Gesundheitszustand machen die Runde. Der einst starke Mann vom Bosporus braucht Europa – und die EU sollte das nutzen, um sich für eine demokratischere, stabile Türkei einzusetzen. Davon würde der ganze Kontinent profitieren.
arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.