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Menschenrechtsbeauftragte Kofler: „Die Coronakrise geht zu Lasten der Ärmsten in der Welt.“

Aus der Coronakrise droht auch eine Menschenrechtskrise zu werden, warnt die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung Bärbel Kofler. Sie fordert deshalb u.a. ein Lieferkettengesetz, das Menschenrechte und faire Bezahlung garantiert.
von Kai Doering · 10. Mai 2020
Menschenrechtsbeauftragte Bärbel Kofler: Die Menschenrechte müssen in allen Politikfeldern ein zentrales Thema sein.
Menschenrechtsbeauftragte Bärbel Kofler: Die Menschenrechte müssen in allen Politikfeldern ein zentrales Thema sein.

Das Corona-Virus hat nicht nur fast überall in der Welt eine gesundheitliche Krise ausgelöst. Human Rights Watch warnt angesichts von Grundrechtseinschränkungen zur Bekämpfung der Krankheit auch vor einer „Menschenrechtskrise“. Sehen Sie die auch oder halten Sie das für übertrieben?

Ich teile die Sorge, dass aus der Pandemie zunehmend auch eine Menschenrechtskrise erwächst. Durch die Corona-Pandemie kommt es in vielen Ländern zu deutlichen Einschränkungen bürgerlicher Freiheiten und Rechte, etwa bei der Versammlungsfreiheit oder der Ausübung der Religionsfreiheit. Diese Einschränkungen sind nur dann gerechtfertigt, wenn sie zur Bekämpfung und Beseitigung der Covid-19-Pandemie dienen und vor allem angemessen und verhältnismäßig sind. Human Rights Watch kritisiert vollkommen zurecht, dass autoritäre Regime und Diktatoren diese Situation ausnutzen, um Menschrechte weit über das Notwendige hinaus einzuschränken. Häufig waren die Menschenrechte dort schon vor Ausbruch der Pandemie eingeschränkt. Corona kann da ein Verstärker sein, sodass sich die Situation noch verschlimmert. Da müssen wir sehr wachsam sein.

Auch Regierungen, die keine schlechten Absichten verfolgen, haben auf das Corona-Virus unter anderem mit weitreichenden Einschränkungen von Grundrechten wie der Bewegungs-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit reagiert. Werden Menschenrechte vor dem Hintergrund einer konkreten Bedrohung zum Luxus?

Nein, selbstverständlich nicht. Wenn es um die Frage der Menschenrechte geht, gibt es schon länger die Tendenz, darauf zu verweisen, dass andere Dinge im Moment dringlicher sind und Vorrang haben. Wir kennen die Argumentation z.B. im Zusammenhang mit der Terrorismusbekämpfung. Leider versuchen einige Länder nun, auch die Corona-Pandemie in diesem Sinne zu missbrauchen. Dabei ist eigentlich das Gegenteil der Fall: Wenn Menschenrechte geachtet und einschränkende Maßnahmen den Menschen erklärt werden, ist die Chance, als Gesellschaft eine Pandemie durchzustehen, wesentlich größer als wenn Meinungen unterdrückt und Rechte eingeschränkt werden. Deshalb sage ich ganz klar: Menschenrechte sind überhaupt kein Luxus, sondern notwendige Grundlage für eine gerechte Gesellschaft.

Ein wesentliches Menschenrecht ist das Recht auf Gesundheit. Amnesty International kritisiert, dass sich z.B. in Hongkong als einer der ersten von Corona betroffenen Städte fast 70 Prozent der Familien mit geringem Einkommen die von der Regierung empfohlene Schutzausrüstung nicht leisten konnten. Gelten Menschenrechte nur für Reiche?

Nein, natürlich nicht. Eine entscheidende Frage der Menschenreche ist, welchen Zugang Menschen zum Gesundheitssystem haben. Hongkong ist aber leider nur ein Beispiel von vielen, wo es zurzeit nicht funktioniert. Vieles von dem, was zurzeit als Gesundheitsschutz empfohlen ist, kann armutsbedingt häufig nicht umgesetzt werden. Ich kenne aus eigenen Anschauungen die Situationen in Slums, beispielsweise in Indien. Dort ist „social distancing“ unmöglich. Die Menschen dort leben dicht an dicht. Wirklich helfen kann da nur eine ernsthafte Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen, die die Armutsbekämpfung, den Gesundheitsschutz und die faire Produktion von Gütern zusammen denken. Die erschreckendste Zahl weltweit, die ich bisher in der Coronakrise gehört habe, stammt vom UN-Welternährungsprogramm, das davor warnt, dass zusätzliche 130 Millionen Menschen bis Ende dieses Jahres an der Schwelle zum Verhungern stehen könnten.

Woran liegt das?

Wenn Bewegungsfreiheit, Handel und Transport eingeschränkt oder gestoppt sind, können Menschen in vielen Ländern des globalen Südens weder genug anbauen, noch haben sie genug Lohn und damit Geld, um Essen zu kaufen. Im Textilbereich in Bangladesch zum Beispiel wurden Textilien, die bereits produziert waren oder sich in Produktion befanden, von westlichen Modelabels einfach nicht bezahlt. Hinzu kam, dass Lieferketten unterbrochen waren und Produkte nicht aus dem Land transportiert werden konnten. Das zeigt: Diese Krise geht zu Lasten der Ärmsten in der Welt. Das dürfen wir nicht zulassen.

Wie lässt sich das ändern?

Zum Beispiel mit einem Lieferkettengesetz, das dafür sorgt, dass Menschenrechte und faire Bezahlung in der gesamten Kette gewährleistet sind. Die Ergebnisse einer ersten Befragung deutscher Unternehmen waren eindeutig und mehr als ernüchternd: Über 80 Prozent der deutschen Unternehmen erfüllen aktuell ihre menschenrechtliche Sorgfaltspflicht noch nicht ausreichend. Das zeigt, dass wir in Deutschland ein Lieferkettengesetz brauchen. Mein Dank gilt besonders den beiden Bundesministern Hubertus Heil und Gerd Müller, die Eckpunkte für gesetzliche Regelungen angekündigt haben. Auch auf europäischer Ebene nimmt die Debatte erfreulicherweise  Fahrt auf. EU-Justizkommissar Didier Reynders hat vor wenigen Tagen einen Gesetzentwurf für ein europäisches Lieferkettengesetz im nächsten Jahr angekündigt. Das wird auch bei der deutschen EU-Ratspräsidentschaft ein wichtiges Thema werden.

Als Konsequenz aus den wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise fordern viele, Produktion aus dem Globalen Süden zumindest nach Europa, wenn nicht gar ins eigene Land zurückzuholen. Was würde das für diese Länder bedeuten?

Diese Frage muss man meiner Meinung nach sehr differenziert betrachten. Es gibt gute Gründe, über eine Rückverlagerung der Produktion von bestimmten, notwendigen Gütern nach Europa und auch Deutschland nachzudenken, in der aktuellen Krise zeigt sich das zum Beispiel bei lebensnotwendigen Medikamenten oder Schutzmasken. Grundsätzlich ist aber industrielle Produktion in Ländern des globalen Südens wichtig, um dort Arbeitsplätze zu schaffen. Es kommt darauf an, dass dies zu fairen Bedingungen geschieht, damit Menschen Perspektiven aus der Armut finden können. Eine wichtige Frage ist zudem, wie es gelingen kann, Wertschöpfungsketten in den Ländern selbst aufzubauen. Oftmals fehlt es an so wichtigen Industriezweigen wie der Lebensmittelverarbeitung.

Auch innerhalb der EU werden Menschenrechte vor dem Hintergrund von Corona aufgeweicht. Polen nutzt laut Amnesty International das Virus für einen „Angriff auf Menschenrechte und Rechtstaat“. Griechenland hat über Wochen keine neuen Asylanträge mehr angenommen. Macht Ihnen das Sorge?

Ja, große sogar. In Ungarn regiert Victor Orban per Dekret und das ohne zeitliche Begrenzung. Das ist beängstigend. Im Fall von Polen handelt die EU-Kommission nun zum Glück und hat ein Rechtsstaatsverfahren begonnen. Die Situation auf den griechischen Inseln war schon vor der Coronakrise beschämend. Nun hat sich die Lage nochmal dramatisch zugespitzt. Für mich ist klar, dass die Geflüchteten dort nicht bleiben können, sondern vernünftig untergebracht werden müssen. All diese Fragen waren schon vor der aktuellen Situation da. Corona bündelt sie nun wie in einem Brennglas.

Sollte das Thema Menschenrechte ein Schwerpunkt der deutschen EU-Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte werden?

Ja, darauf werde ich drängen. Die Menschenrechte müssen in allen Politikfeldern ein zentrales Thema sein. Das berührt neben den globalen Lieferketten und dem Thema gute Arbeit weltweit z.B. auch den Bereich der Gleichstellung und der Frauen- und Kinderrechte. Bei der deutschen EU-Ratspräsidentschaft müssen sie deshalb eine zentrale Rolle spielen.

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Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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