Massenproteste in Russland: Die Demokratie lebt – ein bisschen
Am 26. März 2017 gingen in 95 Städten Russlands bis zu 150.000 Menschen auf die Straße, darunter fast 30.000 in Moskau, um gegen die Korruption in ihrem Land zu protestieren. Somit waren es die größten regierungskritischen Aktivitäten seit den Massenprotesten von 2011. Als Auslöser für die Proteste galt die Veröffentlichung einer Dokumentation über die vermutlichen Bereicherungs-Fälle im Umkreis des russischen Ministerpräsidenten Dmitri Medwedew. Verschärft wurde das Ganze, als die Machthaber sich weigerten, auf die Vorwürfe zu reagieren.
Moskau: Harter Polizeieinsatz gegen Demonstranten
Die meisten Kundgebungen waren nicht genehmigt, weil den Anträgen der Veranstalter nicht entsprochen wurde. In den Millionenstädten Nishnij Nowgorod und Rostow-am-Don wurden an diesem Tag alle Plätze für andere Aktionen reserviert. In Nowosibirsk wurden die Straßen neu gepflastert. Nur die Verwaltung von Jekaterinburg sprach Klartext: Eine Demonstration könne den Ruf Medwedews schädigen, deshalb könne sie nicht stattfinden.
Die Polizei ging gegen die Protestierenden hart vor. Allein in Moskau wurden 1.000 Personen verhaftet. Selbst im kleinen Machatschkala am Nordkaukasus, wo die Menschen der Demonstration traditionell fernbleiben, gab es etwa 150 Festnahmen. Dmitri Peskow, der Pressesprecher Putins, rechtfertigte die Polizeieinsätze gegen die „verbotenen Aktionen“ und bezeichnete den Protest als „Provokation und Lüge“.
Staatsmedien verschweigen Proteste
Die fünf größten landesweiten TV-Sender Russlands schenkten der Protestwelle fast keine Aufmerksamkeit. Nur in der Nacht wurde dieses Ereignis in einer Talkshow im Nebensatz erwähnt. Doch gehen im Social Media die Wogen hoch, auch unter Beteiligung Kreml-treuer Politologen. Niemand redet dabei vom Versuch, die Unabhängigkeit Russlands zu unterminieren, sondern von einem großen Reform- und Reparaturbedarf des gegenwärtigen Staatsmodells.
Im Lager der Opposition gibt es optimistische Töne. Der Regimekritiker Wladimir Milow sprach von einer „innenpolitischen Kehrtwende“. Der Grund dafür ist eine bunte Zusammensetzung der Protestierenden. Im Gegensatz zu den Kundgebungen von 2011 mit ihrem eher elitären Charakter, nehmen heute die Menschen aus so gut wie allen Bevölkerungsschichten und Altersgruppen daran teil.
„Hört auf, uns zu berauben“
Die russische Homepage Meduza befragte viele Heranwachsende nach den Motiven für ihr Engagement. „Empörung“, „eine Möglichkeit, sich frei zu äußern“, „meine Stimme für die Änderung der Lage im Land zu erheben“, so die Antworten von 15-16-Jährigen. Das ist keine stigmatisierte „Fünfte Kolonne“ einer Hand voll Andersdenkender, sondern ein unverkennbares Warnzeichen für die Regierung. Die Wut der Menschen richtet sich nicht gegen den Politiker Medwedew, sondern gegen das System und dessen Erscheinungsformen. „Für unsere Werte“, „Hört auf, uns zu berauben“ oder „Gegen die schweigende Presse“, solche selbstgemachten Plakate prägten das Straßenbild.
Noch ist es deutlich zu früh, um Schlüsse über eine mögliche Änderung der politischen Verhältnisse in Russland zu ziehen. Präsident Wladimir Putin sitzt fest im Sattel und wird 2018 mit größter Wahrscheinlichkeit wiedergewählt. Medwedew rutscht nach der Verhaftung des Wirtschaftsministers Uljukaew und der Schwäche seiner weiteren Vertrauten zunehmend in die Bedeutungslosigkeit. Putin kann den heutigen Regierungschef jederzeit opfern, ohne sich selbst politisch zu schaden.
Oppositionsparteien gelten auch als „korrupt“
Die russische Opposition ist nicht entlang der klassischen Links-Rechts-Linie organisiert. Die vorhandenen Parteien können nur wenige Sympathisanten gewinnen, weil sie für breite Teile der Bevölkerung vor allem die Profiteure der Wendezeit und der rechtswidrigen Privatisierung des Staatseigentums verkörpern, die für Millionen Russen eine drastische Verschlechterung ihres Lebensstandards mit sich führte. Damit sind die Oppositionsparteien in den Augen der Protestierenden genauso „korrupt“ wie die Regierenden. Die linke Flanke, die ihrer natürlichen Funktion nach für mehr Gerechtigkeit und Gleichstellung in der Gesellschaft plädiert, bleibt in der russischen Parteienlandschaft weiterhin unbesetzt.