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Martin Schulz: „Wir brauchen jetzt europäische Lösungen“

„Dass, was sich an den europäischen Grenzen abspielt, ist eine Schande und es macht mich wütend", sagt EU-Parlamentspräsident Martin Schulz im Interview über die Flüchtlingspolitik. Er will schnelle Reformen, damit die EU handlungsfähig bleibt – in der Griechenland-Krise wie in der Flüchtlingsfrage.
von Karin Nink · 4. September 2015
Flüchtlinge in Berlin
Flüchtlinge in Berlin

Die EU-Staaten können sich weder auf eine einheitliche Flüchtlingspolitik, noch auf eine faire Verteilung der Flüchtlinge einigen. Ist diese Haltung ein Versagen der gesamten EU?

Es ist ein Versagen von den Regierungen, die eine europäische Lösung verhindern. Wir haben es nicht mit einem griechischen, italienischen oder maltesischen Problem zu tun, sondern mit einem europäischen. Und deshalb brauchen wir auch eine gemeinsame europäische Antwort darauf. Dass, was sich an den europäischen Grenzen abspielt, ist eine Schande und es macht mich wütend, wie zynisch einige eine Lösung dieser Krise verhindern.

Wie muss Europa auf die stetig wachsende Zahl an Flüchtlingen kurz- und langfristig reagieren?

Zunächst einmal müssen wir mehr bei der Rettung von Flüchtlingen tun, um zu verhindern, dass das Mittelmeer weiter zum Massengrab wird. Neben der konkreten Seenotrettung brauchen wir dafür auch mehr Möglichkeiten, wie man legal nach Europa einreisen kann. Denn nur so können wir wirkungsvoll das kriminelle Geschäft der Schlepper bekämpfen und gleichzeitig versuchen, eine bessere Steuerung der Einwanderung hinzubekommen. Dann brauchen wir eine gerechtere Verteilung der Flüchtlinge. Das Wegducken einiger Staaten ist zutiefst unmoralisch. Außerdem brauchen wir Mindeststandards für den Umgang mit Flüchtlingen und eine ausreichende Finanzausstattung der Kommunen, die ja die Integration hinbekommen müssen. Sigmar Gabriel und Frank Steinmeier haben mit ihrem 10-Punkte-Plan die richtigen Vorschläge vorgelegt. Nun gilt es die anderen europäischen Regierungen davon zu überzeugen, dass die Vogel-Strauss-Politik nicht nur unsolidarisch, zynisch und menschenverachtend ist, sondern auch nicht funktioniert.

Nicht nur die Flüchtlingsfrage auch die Griechenland-Krise hat klar gemacht: Die EU muss reformiert werden. Was schlagen Sie vor?

Wir brauchen eine europäische Wirtschaftsregierung, die die Stärkung des europäischen Wirtschaftsraums insgesamt im Auge behält und sicherstellt, dass wir die strategisch wichtigen Investitionen tätigen. Wir brauchen eine Mindestbesteuerung von Unternehmen, damit der ruinöse Wettlauf um die niedrigsten Steuersätze auf dem Kontinent aufhört. Steuerflucht, Steuervermeidung und Steuerdumping muss endlich ein Riegel vorgeschoben werden. Und wir brauchen eine Verstetigung des Spitzenkandidaten-Prozesses, den wir bei der letzten Europawahl begonnen haben. Denn dadurch wird die demokratische Legitimation der EU erhöht und so können wir der Vertrauenskrise begegnen. Die Juncker-Kommission, die durch eine breite Mehrheit im Europaparlament getragen wird, hat in vielen Bereichen eine Kehrtwende vollzogen und die intransparente und neoliberale Politik der Vorgänger-Kommission beendet.

Wann muss dieser Reformprozess umgesetzt sein, damit die EU nicht ihre Handlungsfähigkeit verliert?

Zusammen mit meinen Kollegen aus Kommission, Rat, Eurogruppe und Zentralbank arbeiten wir daran, dass wir zügig die Reformen hinbekommen, um als EU handlungsfähig zu bleiben. Vor der Sommerpause haben wir erste Vorschläge vorgelegt, um die Eurozone zu stärken und die Wirtschafts- und Währungsunion zu vollenden. Jeder weiß, dass wir dringend diese Reformen brauchen und deshalb müssen wir versuchen, in dieser Legislaturperiode einen deutlichen Schritt voranzukommen.

In kaum einem EU-Land gibt es eine Mehrheit für die Verlagerung von Kompetenzen nach Brüssel. Wie wollen Sie die Menschen überzeugen?

Es geht nicht darum, mehr Kompetenzen nach Brüssel zu verlagern. In manchen Bereichen brauchen wir mehr Europa, weil das Herumwurschteln der Einzelstaaten keine Lösung bringt. Am Beispiel der gescheiterten Flüchtlingspolitik kann man verfolgen, was es bedeutet, wenn einige Mitgliedsstaaten eine europäische Lösung verhindern. Aber in anderen Bereichen sollte sich Brüssel besser heraushalten. Insgesamt gilt: Wenn die politische Ebene, die am besten ein Problem lösen kann, auch zuständig ist und die notwendigen Instrumente hat, um wirkungsvoll handeln zu können, dann gewinnen wir Vertrauen zurück.

Im Europawahlkampf haben die Sozialdemokraten die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit zu einem Hauptziel erklärt. Bisher gibt es kaum Fortschritte. Wurde da zu viel versprochen?

Nein. Das Europaparlament hat zusammen mit der Kommission ein Paket von mehr als 300 Milliarden Euro aufgelegt, durch das Investitionen in Europa gefördert werden. Damit können nun die Mitgliedsstaaten eine aktive Politik zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit forcieren. Wir müssen dringend strategische Investitionen vorantreiben, um bei Schlüsseltechnologien Anschluss zu behalten und gleichzeitig gute Jobs auf unserem Kontinent zu sichern. Das bleibt eine der Hauptprioritäten für uns.

Beschäftigt sich Europa zu viel mit Griechenland und zu wenig mit der Ukraine, in der es um Krieg und Frieden und die Sicherheitsarchitektur des ganzen Kontinents geht?

Nein, es gibt permanente Diplomatie, um die Krise nicht eskalieren zu lassen. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini, Frank-Walter Steinmeier, Laurent Fabius und andere arbeiten unermüdlich an einer friedlichen Lösung. Richtig ist aber auch: Die Welt ist in großer Unordnung. Es gibt Konfliktherde in der Ukraine, Syrien und im gesamten Nahen Osten und eine brandgefährliche terroristische Bedrohung durch den sogenannten Islamischen Staat. Politik muss auf alle diese Herausforderungen reagieren.

Die Reformkräfte in Kiew klagen über zu wenig Unterstützung durch den Westen. Zu Recht?

Nein, wir stehen in ständigem, engen Kontakt mit Kiew, mit der Regierung genauso wie mit der Opposition. Ende September werde ich in Köln beispielsweise Vitali Klitschko mit einem Preis auszeichnen.

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Karin Nink

ist Chefredakteurin des "vorwärts" und der DEMO – Das sozialdemokratische Magazin für Kommunalpolitik sowie Geschäftsführerin des Berliner vorwärts-Verlags.

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