Martin Schulz warnt vor Folgen eines Brexit
Dirk Bleicker
Martin Schulz, am 23. Juni entscheiden die Briten über ihre EU-Mitgliedschaft. Was würde ein Brexit bedeuten?
Ohne Großbritannien – die zweitgrößte EU-Volkswirtschaft, ein G7-Staat und eine Vetomacht im UN-Sicherheitsrat – wäre die EU wirtschaftlich und politisch schwächer. Umgekehrt gilt aber auch: Gerade weil Großbritannien Mitglied der EU ist, ist es auch die zweitgrößte Volkswirtschaft Europas und Mitglied der G7. Ein Verbleib in der EU würde den Briten und Europa nützen, ein Austritt würde beiden schaden.
Viele Menschen haben das Vertrauen in die europäischen Institutionen verloren und wählen häufig, mehr aus Protest als aus Überzeugung, Rechtspopulisten. Was tun?
Zunächst einmal: Die Flüchtlingskrise war nicht ursächlich für das Anwachsen des Rechtspopulismus, den gibt es – etwa in Frankreich – seit Jahrzehnten. Die Rechtspopulisten profitieren davon, dass Europa sein Gerechtigkeitsversprechen nicht mehr hält. Das lautete: Mehr Wachstum führt zu mehr Verteilungsgerechtigkeit, erstens zwischen den Ländern und zweitens innerhalb jeder Gesellschaft.
Woran liegt das?
Ein Beispiel: Der kleine Cafébesitzer zahlt brav seine Steuern, Starbucks nebenan zahlt kaum welche. Das erzeugt Wut. Zu Recht. Ein anderes Beispiel: Manche Spekulanten machen Milliarden Gewinne und zahlen keine Steuern, weil sie ihr Geld in Steueroasen parken. Machen sie aber Verluste, zahlt der Steuerzahler. Das dürfen wir nicht länger hinnehmen.
Warum sind gerade in den wohlhabenden EU-Staaten Rechtspopulisten auf dem Vormarsch?
Angst ist das Motiv. Die Angst, den erworbenen Lebensstandard nicht halten zu können. Die Angst, dass es den eigenen Kindern nicht besser, sondern schlechter geht. Das Gefährliche ist, dass die Konjunkturritter der Angst, die Populisten, mit ihrer Forderung „Zurück in die nationale Vergangenheit“ kein Problem lösen, sondern alles nur noch schlimmer machen. Die Populisten scheinen zwar auf alles eine Antwort zu haben, tatsächlich haben sie aber für nichts eine funktionierende Lösung.
Die Kritik an der EU würde vermutlich weniger verfangen, wenn es nicht auch tatsächlich Defizite gäbe, wie etwa das Demokratie- und Transparenzdefizit.
Diese Kritik ist absolut berechtigt. Das Problem ist, auf nationaler Ebene kennt jeder seine Regierung und sein Parlament. Das gilt für Europa nicht. Es ist nicht klar, wer in Europa für was zuständig ist. Wir brauchen eine klare Kompetenzordnung, die das deutlich macht. Und eine erkennbare europäische Regierung, die sich verantworten muss.
Selbstbestimmung ist für viele Europäer ein ganz entscheidender Wert. Die Forderung, mehr Kompetenzen von Brüssel zurück an die Nationalstaaten zu verlagern, ist in vielen Ländern zu hören. Könnte das die Lösung sein?
Ja, ich fordere das seit längerem. Die EU-Kommission hat bereits damit begonnen. Allerdings ist das ein Prozess, das geht nicht von heute auf morgen. Vierzig Jahre wurden ausschließlich Kompetenzen nach Brüssel verlagert. Der umgekehrte Weg muss noch geübt werden.
Welche Kompetenzen könnten denn von Brüssel zurückverlagert werden?
Wir sollten öfter nur die Ziele vorgeben, aber nicht gleich die Umsetzung. Ein praktisches Beispiel: Das Ziel, wie viel Wasser wir einsparen wollen, können wir europäisch festlegen. Die konkrete Reduktion des Wasserverbrauchs aber, etwa über wassersparende Duschköpfe und Toilettenspülungen, sollten wir nicht zentral regeln. Besser wäre es, das Wassermanagement zur Aufgabe der Regionen zu machen. Es braucht dazu keiner Tipps aus Brüssel. Global denken, lokal handeln, das muss die Maxime werden.
Offene Grenzen werden zunehmend kritischer gesehen, weil sie auch für illegale Migration oder organisierte Kriminalität missbraucht werden. Hat die europäische Politik das Sicherheitsbedürfnis der Menschen unterschätzt?
Ich kann nur für mich sprechen. Ich habe es niemals unterschätzt. Ich habe immer betont, nur reiche Leute können sich einen schwachen Staat leisten, denn die können sich Sicherheit kaufen. Und wenn Sicherheit national nicht mehr gewährleistet werden kann, muss das transnational geschehen.
Geschieht das denn?
Es geschieht, zum Beispiel durch Europol. Aber es geschieht viel zu wenig. Das Europäische Parlament hat bereits in den 90er Jahren eine Kompetenz der EU für die Sicherung der EU-Außengrenzen gefordert. Aber erst jetzt beginnen die Innenminister der Mitgliedsländer, die dafür notwendige Gesetzgebung voranzubringen. Das Fehlen einer gemeinsamen Politik hier hat in der Vergangenheit nicht zu mehr, sondern zu weniger Sicherheit geführt. Deswegen ist es gut, dass jetzt Bewegung in die Sache kommt.
Muss den EU-Kritikern die Politik in der EU nur besser erklärt werden? Oder sollte sie in bestimmten Punkten modifiziert werden, um die Kritiker wieder an Bord zu holen?
Wir brauchen eine andere, eine bessere EU-Politik. Ich warne davor, berechtigte Kritik als antieuropäisch zu verteufeln. Ich kritisiere Europa auch. Aber nicht, um es abzuschaffen, sondern um es besser zu machen. Die Menschen wollen europäische Lösungen. Und die müssen wir liefern, wenn Europa vorankommen soll.
Wären mehr europäische Lösungen auch in der Außenpolitik nötig?
Ja, eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik ist zwingend nötig im 21. Jahrhundert. Wir sehen doch: Wenn Europa gemeinsam handelt, ist es stark und erfolgreich. Das Abkommen, mit dem wir den Atomkonflikt mit dem Iran beilegen konnten und an dem die EU maßgeblichen Anteil hatte, ist einer der größten diplomatischen Erfolge seit Jahrzehnten.
In der Flüchtlingspolitik scheint Europa dagegen noch sehr weit entfernt von einer gemeinsamen Linie.
Die Flüchtlingsfrage ist, entgegen der Auffassung von Ungarns Ministerpräsidenten Victor Orban, kein deutsches Problem. Sie ist überhaupt kein nationales, sondern ein globales Problem. Deshalb brauchen wir dringend ein europäisches Konzept.
Wie könnte das aussehen?
Wir brauchen ein legales Einwanderungsrecht in Europa, um aus einer illegalen und ungesteuerten Zuwanderung, eine legale und gesteuerte zu machen. So können wir auch den kriminellen Schlepperbanden den Boden entziehen. Und wir müssen endlich die versprochenen Hilfsgelder an Jordanien, den Libanon und die Türkei zahlen, damit sich nicht noch mehr Flüchtlinge aus reiner Not von dort auf den Weg zu uns machen.
Muss Zuwanderung begrenzt werden?
Diejenigen, die sagen, alle können kommen, irren sich. Es werden nicht alle kommen können. Wie brauchen eine Steuerung und damit auch eine Begrenzung. Das erreichen wir auch dadurch, dass wir den Menschen in ihren Heimatländern eine bessere Perspektive bieten, etwa durch Startup-Programme für Unternehmen in diesen Regionen. Da ist oft mit ein paar Tausend Euro schon geholfen.
Ist die EU dem türkischen Präsidenten Erdogan in der Flüchtlingspolitik in die Falle gelaufen und hat sich von ihm erpressbar gemacht?
Nein, wir haben uns keineswegs von Herrn Erdogan erpressbar gemacht. Das Europäische Parlament hat das vor-exerziert, indem es die Beratungen zur Visa-Liberalisierung nicht beginnt, weil die Türkei die Voraussetzungen nicht erfüllt. Wir sind nicht erpressbar. Und wir werden Erdog˘an weiter dort kritisieren, wo es nötig ist. Aber selbstverständlich müssen wir trotzdem mit der Türkei zusammenarbeiten.
Olaf Scholz hat die Griechenland-Krise als den „populistischen Moment“ bezeichnet, der das Entstehen der AfD ermöglicht habe. Hat die europäische Politik nicht auch deshalb Vertrauen verloren, weil sie das eiserne Versprechen, kein Land haftet für die Schulden des anderen, infrage gestellt hat?
Wir haben bislang vor allem Kredite und Bürgschaften gewährt. Aber das Gefühl, dass wir eines Tages für die Schulden anderer zahlen könnten, kommt nicht von ungefähr, das ist richtig. Allerdings: Wir standen vor der Abwägung, einen weiteren Hilfskredit zu geben oder den Kollaps unserer Währung in Kauf zu nehmen, mit unabsehbaren Folgen für unsere Unternehmen und damit für die Arbeitsplätze auch in Deutschland. Die Finanzminister haben sich für ersteres entschieden. Das war richtig.
Die Populisten stürzen sich jetzt auf Pläne für eine gemeinsame Einlagensicherung in der EU, nach denen deutsche Sparer mit ihren Guthaben die Einlagen etwa griechischer oder italienischer Sparer absichern müssten. Droht hier nicht ein neuer „populistischer Moment“, der den Rechts-populisten weiteren Auftrieb gibt?
Zunächst einmal muss es nationale Einlagensicherungssysteme geben, bevor an eine gemeinsame Sicherung überhaupt zu denken ist. Solange nicht alle EU-Staaten eine nationale Einlagensicherung haben, ist die Gefahr, dass deutsche Sparer auch für die Einlagen in anderen Ländern haften, viel größer. Darauf sollten wir uns jetzt konzentrieren.
Der Euro sollte die Europäer zusammenbringen. Treibt er sie nicht in der Praxis auseinander, ja gegeneinander?
Nicht die gemeinsame Währung treibt die Euro-Länder auseinander. Der Euro hat uns in den Krisen der letzten Jahre geschützt, weil wir nicht zum Spielball anderer Währungen geworden sind. Aber die 19 unterschiedlichen Arbeitsmarkt-, Steuer- und Wirtschaftspolitiken der 19 Euro-Staaten treiben uns aus-einander. Denn sie führen zu wirtschaftlichen Ungleichgewichten in der Eurozone, die wir nicht ausgleichen, indem wir den Euro abschaffen, sondern die wir ausgleichen, indem wir endlich die Politiken angleichen.
ist Chefredakteurin des "vorwärts" und der DEMO – Das sozialdemokratische Magazin für Kommunalpolitik sowie Geschäftsführerin des Berliner vorwärts-Verlags.