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Maja Göpel: „Wer ist denn hier utopisch?“

Unter Corona wurde plötzlich eine ganz andere Flexibilität sichtbar, sagt Bestsellerautorin Maja Göpel. Das ganze 'Es geht nicht' wurde als 'Will nicht' enttarnt. Doch wie geht es jetzt weiter? Ein Interview über Wege aus der Risikogesellschaft.
von Claudia Detsch · 21. Juli 2020
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Ihr Buch „Unsere Welt neu denken“ über das künftige Zusammenspiel zwischen Ökonomie, Ökologie und Gesellschaft steht seit Monaten auf den Bestsellerlisten. Ist das auch auf die Corona-Krise zurückzuführen?

Ich glaube, das war einfach ein Ergebnis der Scientists for Future - dieses Bedürfnis, anders und einfacher zu erklären, wie die Dinge zusammenhängen. Das war auch meine Intention für das Buch. Zudem ging es mir darum, den Diskurs zu entgiften. Daher habe ich die Begriffe Staat und Markt, Verbote und Verzicht prominent aufgenommen. Sie werden in der Nachhaltigkeitsdebatte oft dafür eingesetzt, eine offene Diskussion zu torpedieren. Man sollte aber immer erst fragen, welche Ziele es zu erreichen gilt, um dann zu schauen, welche Instrumente hilfreich sind. Also nicht per se ein Instrument verteufeln, sondern den Kontext anschauen. Ich glaube schon, dass der Erfolg des Buches auch mit Corona zu tun hat. Menschen haben einfach das Bedürfnis, sich zu informieren, weil sie das Gefühl haben, die Dinge verändern sich gerade rasant.

Wo müssen wir auf dem Weg in ein neues Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell ansetzen?

Wir pflegen in den westlichen Gesellschaften eine Sichtweise, die wir mit methodologischem Individualismus beschreiben: wir schauen einzelne Elemente an, um daraus zu schließen, wie ein Gesamtsystem funktionieren wird. In vielen Bereichen aber haben wir gemerkt, dass das nicht hinhaut. Das ist einer der zentralen Kritikpunkte an der klassischen Form der Ökonomie: Es wird nicht hinterfragt, wo die Orientierung und Qualität der Elemente eigentlich herkommt und wie sie sich über die Zeit verändert. Wenn wir sämtliche Strukturen der Gesellschaft so entwickelt haben, dass ein homo oeconomicus-Verhalten angesprochen wird, dann sollten wir uns nicht wundern, dass immer mehr homo-oeconomicus-Verhalten herauskommt.

Der zweite Kritikpunkt wird Fehlerhaftigkeit der Aggregation genannt: gesellschaftliche Entwicklung lässt sich nicht allein durch Aufsummieren der Einzelverhalten prognostizieren. Dafür muss ich einen systemischen Blick haben, der vor allem auf Rückkopplungsschleifen und nicht-lineare Entwicklungen fokussiert – also auf die Beziehungen zwischen den Elementen. Wichtig ist bei menschlichen Systemen auch der Punkt der Reflexivität: wie unsere Narrative unsere Sicht auf die Welt und unser Handeln anleiten und wir damit eben auch Zukunft und Realität schaffen. Sich das immer wieder bewusst zu machen, ist das aufklärerische Momentum einer liberalen, lernenden Gesellschaft. Wenn sich also die Rahmenbedingungen radikal verändert haben, bin ich gut beraten, mal wieder empirisch zu beobachten, welche Veränderungen daraus für meine Ideen und Modelle guter Entwicklung resultieren.

Die Frage ist, ob wir so lange weitermachen, bis die nächste Krise unsere Routinen wieder unterbricht

Wir haben in der Corona-Krise gesehen, dass es plötzlich möglich war, alte Gewissheiten von einem Tag auf den anderen auszuhebeln. Warum entfaltet die Klima-Krise bislang keine vergleichbare Dringlichkeit?

Man kann Corona mit dem Klimawandel insofern nicht vergleichen, als dass Corona kurzfristig auf die eigene Bevölkerung wirkt. Es gibt sehr klare Rückkopplungsschleifen, die eine Aktivität – den Lockdown - mit einer Kausalität – der geringeren Zahl an Todesfällen – relativ gut und vor allem kurzfristig verbinden. Aber immerhin haben wir jetzt alle gelernt, dass es in vielen Systemen sinnvoll ist zu intervenieren, bevor man die Konsequenzen spürt, weil sonst die Folgen außer Kontrolle geraten. Man kann also nicht davon ausgehen: In dem Moment, wo wir alle zu Hause bleiben, stoppt sofort die Infektion; in dem Moment, in dem wir die CO2 emittierenden Fossilien stoppen, können wir sofort den Klimawandel stoppen. Dieses antizipative und präventive Denken haben wir verstanden.

Beim Klimawandel aber bleibt die Herausforderung, dass die Folgen immer noch orts- und zeitversetzt kommen. Wir müssen den Strukturwandel jetzt umsetzen. Dabei entstehen Transaktionskosten. Das ist unbequem. Die Effekte des Nichthandelns würden sich dagegen erst zeitlich verzögert zeigen. Besonders diejenigen, die vom Status Quo profitieren, sagen: Wieso sollen wir das jetzt machen? Das kostet Arbeitsplätze und kurzfristige Gewinne, selbst wenn die Bilanz bei beidem langfristig positiv ausfällt. Daher brauchen wir gute Politik und Vereinbarungen, die der strukturellen Kurzfristigkeit eine verbindliche Transformationsagenda entgegenstellt.

Zu Beginn der Corona-Krise war von einem Epochenbruch die Rede, gar vom Ende des Kapitalismus. Diese Aufbruchstimmung scheint schon wieder einzuschlafen. Droht Business as usual?

Ja, diese Bedrohung ist real. In der Forschung sprechen wir immer von Pfadabhängigkeiten, Strukturen, die uns alle weiterschieben in eine Richtung, selbst wenn wir individuell für uns beschlossen haben, dass wir sie nicht gut finden. Es braucht Zeit, um aus diesen Pfaden auszubrechen. Es ist nicht erstaunlich, dass die gleichen Strukturen nun wieder greifen. Die Frage ist, ob wir so lange weitermachen, bis die nächste Krise unsere Routinen wieder unterbricht. Oder ob wir es schaffen, das Antizipative aufgeklärt voranzutreiben. Wir leben heute in einem degenerativen Wirtschaftssystem, in einer Weltrisikogesellschaft, aber wir möchten gerne in eine Gesellschaft, in der stabile und verlässliche Versorgungssicherheit herrscht. Wie kommen wir dahin?

Wir haben jetzt die Möglichkeit, Investitionen eine klare nachhaltige Richtung zu geben

Wie bewerten Sie vor dem Hintergrund Ihrer Forderungen die aktuellen Rettungsprogramme für Wirtschaft und Beschäftigte?

Über dem aktuellen Programm steht: Die Wirtschaft soll entfesselt werden. Aber es bleibt offen, in welche Richtung. Einzelne Technologien werden gefördert, aber mit der Gießkanne und nicht auf eine Kreislaufwirtschaft abzielend, wie es der Kern des Green Deal ist. Im Moment wird Geld rausgeschoben, aber es profitieren primär die Akteure, die schon im aktuellen Pfad dominant sind. Wenn wir nicht auch die politischen Rahmenbedingungen verändern, dann ist es wahrscheinlich, dass wir viele von den Strukturen weiter erhalten, die wir eigentlich transformieren wollten: alle Autos mit elektrischen ersetzen und Wasserstoff dazu ausbauen ist noch keine Mobilitätswende.

Mir fehlt also die übergeordnete Strategie, sowohl sektoral als auch regional. Das kann nur der Anfang gewesen sein. Wir haben jetzt die Möglichkeit, Investitionen eine klare nachhaltige Richtung zu geben, neue Märkte für Nutzungs- statt Besitzkonzepte zu schaffen und kreislauforientierte Umbauprozesse in Unternehmen anzureizen. Dafür müssen aber auch Ziele an das Geld gebunden werden. Das ist viel einfacher mit geduldigem Staatskapital hinzubekommen als mit privatem Kapital. Deshalb ist für mich ein Ansatz wie der Green Deal enorm wichtig. Im Herbst werden wir eventuell über das nächste Programm diskutieren. Dann brauchen wir eine klare Richtungsorientierung.  

Es geht um Interessen und Übergangsprozesse, darum, eine solidarische Herangehensweise sicherzustellen

Wie sieht das in der Praxis aus?

Nehmen Sie das Beispiel Automobilsektor. Die Branche weiß, dass die Arbeitsplätze sich verschieben und verringern werden durch die Elektromobilität. Jetzt so zu brüllen, nur weil die SPD nicht länger den Verbrennungsmotor fördern will, ist rein politisch motiviert. Es wird nicht ehrlich darauf geschaut, was der Branche ohnehin bevorsteht. Die Frage ist doch, wie sich Übergangsprozesse gestalten lassen.

Aber in der Gesellschaft wächst auch der Protest gegen weiteichende ökologische Maßnahmen, siehe Frankreich und die Gelbwesten. Nicht zuletzt haben die Rechtspopulisten das Thema für sich entdeckt und generieren sich als Anwälte der sog. kleinen Leute, die zur Kasse gebeten werden sollen. Wie kann man auch die Skeptiker für einen Umbau der Wirtschaft gewinnen?

Erst mal würde ich gerne darauf verweisen, dass viele Studien zeigen, dass beispielsweise erneuerbare Energiesysteme oder regenerative Landwirtschaft mehr Jobs bringen werden als die Lösungen heute. Bei der unhinterfragt als notwendig deklarierten Digitalisierung ist das anders, da schreit aber niemand. Es geht also um Interessen und Übergangsprozesse, darum, eine solidarische Herangehensweise sicherzustellen. Solidarität bedeutet eine bessere Beteiligung der Betroffenen an den Entscheidungen und Umsetzungen von Transformationsstrategien, aber auch Chancengleichheit für die, die nicht so lauthals schreien oder politisch weniger organisiert sind. Ich finde das schon markant: der drohende Verlust von Arbeitsplätzen in der Industrie wird lauthals beklagt. Allen, die als Kreative oder kleine Selbständige arbeiten, wird dagegen gesagt: Hey, der Zugang zu ALG I und Hartz 4 ist doch vereinfacht! Warum ist dieser Zugang zu ALG I für einen Automobilmitarbeiter unzumutbar? Es geht doch dann eher darum, die Arbeitslosenhilfe von Stigmatisierung zu befreien, was ja auch die Diskussion über ein Grundeinkommen zeigt.

Wir brauchen politischen Willen und die Verantwortung von denjenigen, die abgeben können, ohne dann wenig zu haben

Allerdings droht beiden Beschäftigten – dem Mitarbeiter in der Automobilindustrie und dem Kreativen – im Zweifel der Jobverlust. Da sind Wohlhabende besser dran. Auch nach dieser Krise bietet sich das bereits bekannte Bild: diejenigen, die vorher schon gut gestellt waren, profitieren noch zusätzlich, beispielsweise durch Aktienzugewinne. Und die Armen werden sowohl in Deutschland als auch global betrachtet noch ärmer.

Wir nehmen bei Corona immer die Analogie zum Zweiten Weltkrieg vor. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde aber eine systematische Betrachtung der Lastenverteilung vorgenommen. Dass jetzt schon wieder spekuliert wird darüber, wie man die Schulden abbauen will, halte ich für schädlich. Uns sind sämtliche Prognosemöglichkeiten im Makroökonomischen weggekracht – wir wissen weder, wie die Exporte und Zulieferketten sich verhalten werden, noch was sich geopolitisch in diesem Jahr noch tun wird noch ob es eine zweite Welle im Herbst gibt oder die Menschen überhaupt im gleichen Ausmaß shoppen, selbst wenn es vorübergehend billiger wird.

Das ist eine hochinteressante Phase für die Ökonomie, weil die Grundannahmen der Modelle nicht greifen. Was derzeit an den Börsen passiert, spiegelt nicht die Realwirtschaft wider. Es bilden sich spekulative Blasen und die Marktmacht einiger weniger Konzerne wächst noch weiter. Das hat nicht mehr viel mit Marktwirtschaft oder gesellschaftlich verantwortlichem Unternehmertum zu tun. Eine zukünftige Lastenverteilung muss diese Effekte klar benennen und entsprechend korrigieren. Es fehlt weder an Geld noch an guten Ideen und Technologien. Wir brauchen politischen Willen und die Verantwortung von denjenigen, die abgeben können, ohne dann wenig zu haben.

Wie sehen Sie die Aufgabenverteilung zwischen Staat und Gesellschaft? Wer ist der große Impulsgeber - der Staat oder zivilgesellschaftliche Bewegungen wie Fridays for Future?  

Bisher ist ganz klar die Beobachtung, dass die Politik reagiert und nicht agiert. Das ist wirklich frappierend, wenn man sich den Diskurs einiger Parteien anguckt, die das Klimathema nur deswegen nicht allein den Grünen überlassen wollen, weil es öffentliche Proteste gibt. Da bin ich aus wissenschaftlicher Perspektive einfach fassungslos. Es kann doch nicht sein, dass ich das Klimathema nur dann relevant finde, wenn die Leute schreien. Ich muss doch einfach auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse aus dem besten Wissen und Gewissen heraus sagen: Wir haben ein Problem! Und wenn ich das nicht als Umweltthema machen will, sondern als ein Thema der Ressourcengerechtigkeit, des stabilen Wirtschaftens oder eines gesunden Bilanzierungs- oder Risikomanagements – super! Dann soll sich bitte jede Partei ihr eigenes Framing ausdenken, damit es für sie eine gangbare Variante gibt, sich dem Thema anzunehmen. Das bedeutet es für mich, politische Verantwortung zu übernehmen.

Dieses ganze ‚Es geht nicht‘ als ‚Will nicht‘ zu enttarnen, das ist wirklich passiert durch Corona

Ist es nicht ein allgemeiner Trend, dass nur solche Themen besetzt werden, die ansonsten die Rechtspopulisten oder andere radikale Gruppen für sich vereinnahmen könnten?

Aber das ist doch politische Paralyse. Ich bin fast hinten runtergepoltert, als ich die Reaktion der Gewerkschaftsseite auf die Verbrenner-Entscheidung der SPD gehört habe. Die Rechtspopulisten waren aus dem Diskurs verschwunden. Und jetzt erinnern ausgerechnet sozial engagierte Vertreter die Bevölkerung und die AfD daran, dass diese eine tolle Drohkulisse gebaut hatten. Dabei waren die Gewerkschaften an den Debatten zur Just Transition intensiv beteiligt und haben den Slogan geprägt, dass es auf einem toten Planeten auch keine Jobs gibt.

Wie hätte eine entsprechende Reaktion denn Ihrer Meinung nach aussehen können?

Die Gewerkschaften müssen sich fragen, welche Prozesse es jetzt braucht, damit die Menschen, die vom Strukturwandel zur Nachhaltigkeit betroffen sind, einen Teil der Zukunftsjobs übernehmen können. Das gilt übrigens genauso für die Effekte der Digitalisierung, da wird erstaunlicherweise kaum gemeckert. Unter Corona wurde plötzlich eine ganz andere Flexibilität sichtbar. Vorher hieß es immer: Wir können nichts anderes herstellen, schon gar nicht kurzfristig – und plötzlich ging es durchaus. Dieses ganze ‚Es geht nicht‘ als ‚Will nicht‘ zu enttarnen, das ist wirklich passiert durch Corona, also eine Demaskierung der Bequemlichkeit und Besitzstandswahrung.

Solche Änderungen brauchen dennoch Zeit und die Gewerkschaften haben hier kurzfristig die Abwendung von Schaden im Blick. Ist das nicht auch ihre Aufgabe?

Es geht darum zu überlegen: Was ist die Funktion von Arbeit in unseren Gesellschaften? Die Gewerkschaften sollten nicht auf krampfhaften Erhalt eines jeden einzelnen heute bestehenden Jobs aus sein, sondern die Arbeitnehmerrechte gegenüber der Politik vertreten. Dann muss ich für Umschulungsprozesse, für Qualifikationsprogramme, für kreative Zusammenarbeit auf regionaler Ebene zwischen Staat, Forschung, Unternehmen und Zivilgesellschaft sorgen, damit neue Cluster und Identitäten entstehen können. Aber natürlich darf das nicht abgekoppelt von der Gesellschaft geschehen. Es nutzt nichts, wenn in neuen Industrieansiedlungen oder Amazon-Zentralen die hoch vergüteten Jobs von außen reinkommen und die lokale Bevölkerung das insbesondere an den steigenden Mieten merkt.

Im Konjunkturpaket dominieren Geld und Technik. Das sind aber Mittel zum Zweck

In Politik und Wirtschaft gilt es, die korporatistische Engführung zu überwinden und Beteiligung neu zu organisieren; wieder mehr mit Bürgerinnen und Bürger agieren und planen anstatt über sie. Sie erwähnten vorher Frankreich. Es war ein total ermutigender Schritt, dass Macron nach den Protesten gesagt hat: Wir machen einen Bürgerkonvent zu Klimapolitik. Da wurden die Beteiligten aus der breiten Bevölkerung reingelost und 150 Maßnahmen und Empfehlungen verabschiedet, die viel radikaler sind als das, was in der Regierung diskutiert wurde. Gleichzeitig berichten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, sie hätten sehr viel gelernt über unterschiedliche Sichtweisen und jetzt ein Verständnis dafür, wie stark sich die Gesellschaft verändern muss und was welche Veränderung für wen ausmacht. Das nimmt die Leute ernst.

Wir haben so ein verkürztes Verständnis von Innovation in dieser Republik. Im Konjunkturpaket dominieren Geld und Technik. Das sind aber Mittel zum Zweck. Sogar das Gesundheitssystem soll die Digitalisierung retten anstatt eine neue Sozialpartnerschaft, die mit der Frage beginnt, warum die Beschäftigten dort ständig am Ende ihrer Kräfte sind und Sorge um die Qualität haben. So fühlen sich Betroffene ernst genommen und nicht, wenn Ökonomen ausrechnen, dass die Kompensations- oder Investitionssumme ausreichend sein sollte.  

Wie sehen Sie die Rolle der Digitalisierung – wie lässt sich sicherstellen, dass sie den sozio-ökologischen Umbau antreibt und nicht zu deren Sargnagel wird?

Spannenderweise bietet derzeit die EU die Orientierung in dieser Frage. Mit den drei Vizepräsidentinnen und -präsidenten wurden die drei Schwerpunktthemen gesetzt: Green Deal, Digitales und Soziales. Gleichzeitig wurde aber auch die Zusammenarbeit in den Fokus gerückt. Gerade in den Bereichen Green Deal und Digitale Agenda passiert jetzt viel. Es ist ein Alleinstellungsmerkmal und kann ein Standortvorteil Europas werden, wenn die Digitalisierung ökologische und soziale Wertschöpfungsprozesse unterstützt. Die großen amerikanischen IT-Konzerne betreiben ja zum Teil ein sehr parasitäres System, das sich rasant ausbreitet, Verantwortung für die Konsequenzen vermeidend, keine Steuern zahlend, durch die Netzwerkeffekte mit der Macht von Monopolen ausgestattet. Für ihre Besitzer sind es Bereicherungsmaschinen geworden, die man so nicht weiterlaufen lassen darf. Was da stattfindet, ist nicht mehr Disruption im Sinne des Aufbrechens von verkrusteten Pfadabhängigkeiten, das ist inzwischen auch absolute Zerstörung von lange ausgehandelten sozialen Strukturen und einer marktwirtschaftlichen Wettbewerbsstruktur. Oft sind es nicht mehr einzelne Produkte, sondern Infrastrukturen, die da entstehen. Da muss man entsprechend couragiert regulieren.

Neben der Frage der Geschäftsmodelle sollten wir uns außerdem fragen, welche Probleme denn die digitalen Innovationen uns lösen helfen sollten. Noch bessere Shopping-Plattformen und noch mehr Online-Welten?  Oder können uns Künstliche Intelligenz, Sensorik und Big Data ein wirklich gutes Verständnis von Ökosystemen und Stoffkreisläufen und ihres transparenten Managements ermöglichen? Dafür braucht es die Mission zu sagen: Das ist unsere europäische Variante der Digitalisierung. Sie soll die Bürgerrechte ernstnehmen und eine soziale Marktwirtschaft und dabei den Zielen erhöhter Lebensqualität und der Einhaltung der Planetaren Grenzen dienen.  

In vielen Teilen der Welt sind derzeit Rechtspopulisten an der Macht. Wie kann Europa ein Gegengewicht schaffen?

Indem wir uns auf die in den EU-Verträgen festgehaltenen Ziele besinnen. Nie wieder Krieg war die Ausgangsbasis. Und hohe Lebensqualität und Sicherheit der Bevölkerung. Dazu gehört für mich eine umfassende Bildungsrevolution und Ehrlichkeit. Uns wird immer gesagt, wir seien Utopisten, weil wir eine nachhaltige Gesellschaft wollen. Ich denke immer: Wer ist hier denn utopisch? Wie kann man davon ausgehen, dass es so weitergehen kann? In jeder einzelnen Studie, die Umwelt- oder Gerechtigkeitsfragen differenziert behandelt, ist das Business-as-Usual-Szenario keine wünschenswerte Option. Die von fast allen Ländern der Welt verabschiedeten globalen Nachhaltigkeitsziele (SDGs) hingegen stellen soziale und ökologische Ziele in Beziehung zueinander und stellen die Frage, wie wir durch umfassende Innovationen – kulturell, sozial, politisch, ökonomisch und technologisch – ihre Vereinbarkeit hinbekommen. Das ist doch sowohl für Konservative als auch für Progressive eine sehr konkrete Agenda, bei der dann auch niemand Angst haben muss, hinten runter zu fallen. Wir müssen sie nur ernst nehmen und loslegen.

Das Interview erschien zuerst im ipg-journal

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Autor*in
Claudia Detsch

leitet die Redaktion des IPG-Journals. Sie ist Soziologin und war Herausgeberin der sozialwissenschaftlichen Zeitschrift Nueva Sociedad mit Sitz in Buenos Aires. Von 2008 bis 2012 leitete sie das Büro der FES in Ecuador.

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