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Machthungrige Staatschefs und ihr Drang nach politischer Unsterblichkeit

Ob Putin, Xi, Erdoğan oder Netanjahu – die aktuellen Entscheidungen machthungriger Autokraten hinterlassen ein Erbe, das nicht mehr rückgängig zu machen ist.
von Branko Milanović · 27. Juli 2020

In jüngster Zeit versuchen vier bedeutende Staatschefs mit – bereits getroffenen oder bevorstehenden – politischen Entscheidungen, ihre eigene politische Unsterblichkeit zu sichern, indem sie die Hände ihrer Nachfolger durch die Unumkehrbarkeit dieser Entscheidungen binden.

Herrschaft und politisches Erbe

Dabei denke ich an die Aneignung der Krim durch den russischen Präsidenten Wladimir Putin; die Abschaffung der Autonomie Hongkongs durch seinen chinesischen Kollegen Xi Jinping; die Entscheidung des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, Teile des besetzten Westjordanlands zu annektieren; und den Vorstoß des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, die Hagia Sophia in Istanbul in eine Moschee umzuwandeln. All diese Männer sind in einem Alter, in dem sie an ihr politisches Erbe denken müssen: Erdoğan (17 Jahre an der Macht), Putin (20 Jahre) und Xi (sieben Jahre) sind zwischen 66 und 67 Jahre alt; Netanjahu (14 Jahre an der Macht) ist drei Jahre älter.

Dabei möchte ich mit dem letzten Fall beginnen: der Umwandlung eines Museums (das vorher 900 Jahre lang die weltgrößte christliche Kirche war) in eine Moschee. Durch diese Aktion, die vom Obersten Gericht der Türkei abgesegnet wurde, macht Erdoğan eine fast 90 Jahre alte Entscheidung des säkularen türkischen Einparteienführers Kemal Atatürk rückgängig, den religiösen Kampf um die Kirche bzw. Moschee zu beenden und sie zu einem Museum zu machen.

Türkei: Die „Rückeroberung“ der Hagia Sophia

Erdoğan hat seit seinem Amtsantritt im Jahr 2003 das kemalistische Erbe systematisch demontiert. Zuerst tat er dies mit der Unterstützung des Westens, indem er behauptete, mit seiner Disziplinierung der Armee und ihrer Unterwerfung unter die politische Kontrolle folge er lediglich demokratischen Grundsätzen. Nachdem die Europäische Union allerdings eine eventuelle Mitgliedschaft der Türkei mehrmals zurückgewiesen hatte, änderte Erdoğan seinen Schwerpunkt – nicht ganz unvernünftig – dahingehend, die Rolle eines nahöstlichen Strippenziehers zu übernehmen. Außerhalb der Türkei spielte er nun die osmanische Tradition und die türkische Verhandlungsmacht aus, und im Innern betonte er immer stärker die islamischen Wurzeln und Einstellungen seiner Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AK).

Zweifellos wird Erdoğan nach der jüngsten Demütigung – dem Verlust der Mehrheit für seine Partei in Istanbul – durch die „Rückeroberung“ der Hagia Sophia sein Ansehen unter den einfachen islamischen Wählerinnen und Wählern verbessern. Die Aktion werden viele so interpretieren, dass die Türkei ihren ehemaligen Status und Stolz als Weltmacht wiedererlangt. Wer auch immer an Erdoğans Stelle tritt, wird es, selbst wenn er der weltlichsten und am wenigsten konfessionsgebundenen Partei angehört, überaus schwer finden, diese Moschee-Entscheidung rückgängig zu machen. Käme eine solche Partei an die Macht, müsste sie andere und dringendere Probleme lösen. Würde sie versuchen, Erdoğans Aktion zurückzunehmen, würde sie damit eine unnötige Front eröffnen, an der die wahrscheinlichen Verluste überproportional höher als die möglichen Gewinne sind. Also hat Erdoğan gesiegt – und es könnte hundert Jahre dauern, seine Moschee-Entscheidung rückgängig zu machen.

Russland und die Annektierung der ukrainischen Krim

Putins Annektierung der ukrainischen Krim im Jahr 2014 war von ähnlichen Motiven geprägt, obwohl dabei – angesichts der offensichtlich viel größeren Bedeutung – geopolitische und historische Argumente eine noch wichtigere Rolle spielten. Auch hier wird kein Nachfolger, wie liberal er auch sein mag, in der Lage sein, diese Entscheidung rückgängig zu machen – nicht nur, weil dies unpopulär wäre und sogar innerhalb der Krim selbst (und natürlich auch in Russland) abgelehnt würde, sondern weil Russland unter zwei historischen Traumata leidet, aufgrund derer die Politiker des Landes keine staatlichen Gebiete aufgeben können. Diese Traumata sind die imperialen Verluste von 1917 und 1991. Bei beiden, aber insbesondere bei dem zweiten, hat Russland seine diplomatischen Karten katastrophal schlecht ausgespielt.

Die Angst, die die russische Elite aller Schattierungen umtreibt, besteht darin, dass sich Russland, wenn es auch nur eine Handbreit seines angeblichen Territoriums aufgibt, ebenso auflösen könnte wie die Sowjetunion in den Jahren 1991 und 1992. Also kann die Rückgabe der Krim ausgeschlossen werden – außer es gibt in Russland eine neue Revolution oder das Land bricht auseinander. Ebenso wie Erdoğan hat auch Putin seinen Nachfolgern die Hände gebunden.

Israel und die Annektierung des Westjordanlandes

Netanjahus Annektierungsplan folgt derselben Logik. Sobald das Westjordanland, das seit den Oslo-Abkommen der 1990er nominell unter der Kontrolle der Palästinenserbehörde steht, übernommen worden ist, wird es nie wieder zurückgegeben. Die israelischen Siedlerinnen und Siedler dort würden sich dagegen wehren. Die israelischen Parteien – sogar jene, die im Prinzip gegen Netanjahu und die Übernahme eingestellt sind – hätten andere, wichtigere politische Kämpfe zu führen. Und außerdem wird – ebenso wie während der Besatzungsperiode nach dem Krieg mit den arabischen Nachbarn Israels im Jahr 1967 – die Zeit selbst dafür sorgen, dass die Annektierung dauerhaft wird.

Selbst wenn eine andere israelische Regierung versuchen würde, die Siedler (ein Begriff, der im Prinzip überflüssig wird) wieder zu vertreiben, würde dies, da immer mehr von ihnen dorthin ziehen werden, immer kostspieliger und damit irgendwann unmöglich. Niemand wird den Mut dazu haben. Der israelisch-jüdische Charakter der neuen Gebiete könnte nur dann in Gefahr geraten, wenn Israel eine enorme militärische Niederlage erleidet, was momentan unvorstellbar ist. Also hat auch hier ein schlagkräftiger Staatschef dafür gesorgt, dass sein oeuvre – ohne eine nationale Katastrophe – nicht rückgängig gemacht werden kann.

China und die Rücknahme der Autonomie Hongkongs

Auch Xis Rücknahme der Autonomie von Hongkong, die in der Vereinbarung mit Großbritannien von 1997 garantiert wurde, gehört in diese Kategorie. Aufgrund Chinas Status als Supermacht ist dies sogar noch weniger umkehrbar als die drei anderen Entscheidungen. Eine Supermacht kann es sich nicht leisten, den Wünschen anderer, kleinerer Mächte nachzugeben. Niemand glaubt, China werde den Rückwärtsgang einlegen: Ebenso wie Russland wird auch das Reich der Mitte von einer unangenehmen jüngeren Geschichte heimgesucht. Würde es bei einem Problem, das mit dem kolonialen Erbe zu tun hat, nachgeben, würde dies zweifellos als Demütigung angesehen.

Dass China bei den Themen Unabhängigkeit Tibets oder Menschenrechte für die Uiguren einlenkt, ist bereits sehr unwahrscheinlich, aber eine mögliche Wende in Hongkong wäre noch demütigender und würde das Land an die dunkelsten Tage der „Opiumkriege“ erinnern. Auch hier ist eine Autonomie (oder gar Unabhängigkeit) Hongkongs nur dann zu erwarten, wenn China entweder zerfällt, sich zu einer Demokratie entwickelt oder wieder ein Vasallenstaat wie im 19. Jahrhundert wird. Keine diese Entwicklungen ist absehbar. Damit hat also ein autokratischer Staatschef jegliche Möglichkeit der Veränderung nach dem Ende seiner Amtszeit ausgeschlossen.

Aktionen machthungriger Autokraten

Können wir daraus etwas lernen? Ja, wenn wir an Otto von Bismarcks Bemerkung denken, dass dann, wenn wir den Wind der Geschichte richtig spüren, entschlossenes Handeln in die gleiche Richtung dazu führt, dass unsere Tat und unsere politische Unsterblichkeit irreversibel werden. Vielen von uns erscheinen diese Entscheidungen als Aktionen machthungriger Autokraten, die von „vernünftigeren“ Politikern zurückgenommen werden können. Stattdessen werden sie uns noch sehr lang begleiten.

Die beste Garantie dafür, dass eine Politik Bestand hat, ist, dafür zu sorgen, dass sie nur im Fall einer völligen nationalen Niederlage rückgängig zu machen ist, was auf drei der hier besprochenen vier Beispiele zutrifft. Dadurch wird die Politik nicht nur dauerhafter, weil völlige Niederlagen selten sind, sondern es wird auch dafür gesorgt, dass sie sogar im Fall einer Niederlage überleben kann: Die Generationen nach dieser Niederlage würden auf das Zeitalter, in dem die Staatsführer ihres Landes – unabhängig von der Zustimmung der restlichen Welt – mutige Entscheidungen treffen konnten, mit Bewunderung zurückblicken. Der Platz dieser Politiker im Pantheon wäre damit gesichert – sogar im unwahrscheinlichen Fall einer Katastrophe für ihr Land.

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff

Dieser Artikel ist eine gemeinsame Veröffentlichung von Social Europe und dem IPG-Journal.

Autor*in
Branko Milanović

ist Gastprofessor an der City University of New York und Forscher beim Stone Center on Socio-economic Inequality. Für sein Buch Die ungleiche Welt – Migration, das Eine Prozent und die Zukunft der Mittelschicht erhielt er den Hans-Matthöfer-Preis für Wirtschaftspublizistik der Friedrich-Ebert-Stiftung.

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