Liz Truss: Das ist die neue britische Premierministerin
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„Maggie, Maggie, Maggie – raus, raus, raus!“ diesen Schlachtruf der 80er Jahre, den Slogan einer ganzen Generation von Anti-Thatcher-Demonstranten, hat die neue Premierministerin Elizabeth Truss quasi mit der Muttermilch und auf den Schultern ihrer protestierenden Eltern aufgesogen. Gern berichtet sie selbst über diese frühen Kindheitserlebnisse. Dementsprechend entsetzt seien der Professor für Mathematik und die Krankenschwester gewesen, als ihnen die Tochter eröffnete, dass sie in die Konservative Partei eingetreten sei.
Als Kind gegen Thatcher demonstriert
Ein ähnlich lauter Protest würde ihren Eltern heutzutage mindestens eine Ordnungswidrigkeit, im schlechtesten Fall sogar eine Gefängnisstrafe bis zu zehn Jahren einbringen. Denn die Partei ihrer Tochter Liz hatte im April dieses Jahres ein neues Demonstrationsrecht erlassen, nachdem es der Polizei erlaubt ist, „Lärm“ von Demonstrierenden mit allen Mitteln einzudämmen, wenn dieser „die öffentliche Ordnung stört“. Die kleine Liz würde heute wohl kaum mehr mit zur Demo genommen. Das Klima ist dafür zu rau.
Das neue Polizeigesetz reiht sich in eine ganze Reihe von sehr umstrittenen Maßnahmen der seit 2010 regierenden Tories ein. Der Partei von Liz Truss geht es dabei um nichts weniger als um den gesamtgesellschaftlichen Umbau Großbritanniens zugunsten des eigenen Machterhalts. Das Verhältnis zwischen Parlament, Regierung und Justiz soll neu justiert und dabei vom Umbau der Medienlandschaft begleitet werden. Ganze Redaktionsteams der BBC verlassen neuerdings geschlossen den Sender, da sie glauben, dort keinen unabhängigen Journalismus mehr betreiben zu können. Wie ein Offenbarungseid mutete jüngst eine auf dem Edinburgh TV-Festival gehaltene Rede der bekannten BBC-Nachrichtenmoderatorin Emily Maitlis an. Sie berichtete aus ihrem Arbeitsalltag, wo „Fakten einfach verloren gingen“, „Verfassungsnormen im Müll“ landeten und unbequemen Vorwürfen aufgrund von Anrufen aus der Downing Street nicht nachgegangen werde.
Beschädigte Demokratie
Maitlis vielbeachtete Vorlesung war eine einzige Kampfansage gegen den wachsenden Populismus im Königreich, wobei sie eine Linie von der Wahl Donald Trumps über Boris Johnson bis zu Liz Truss zog. Während hunderttausende Familien in Großbritannien sich angesichts der Lebenshaltungs- und Energiekosten vor dem nächsten Winter ängstigten, habe sich die Tory-Führung in der Frage der Nachfolge Boris Johnsons wochenlang einem Schönheitswettbewerb hingegeben, um sich über ihre Ansichten im „woken Kulturkampf“, den Preis ihrer Accessoires oder Steuersenkungen zu streiten.
Berechtigte kritische Fragen an Truss bezüglich ihrer Politikvorschläge wurden, so Maitlis, von der Kandidatin als „von den Medien falsch interpretiert“ oder „zu links“ abgebürstet. Die Journalistin beließ es aber nicht bei den Umgangsformen von Johnson oder Truss. Demokratische Institutionen wie das Prinzip der checks and balances, die Rolle der Gerichte, der Verwaltungen, der Wahlkommission oder der Medien seien zuletzt verwundbar geworden. Politiker, so Großbritanniens bekannteste Nachrichtenmoderatorin, würden in einer Weise handeln, „die die Grundlagen der Demokratie beschädigten“. Hannah White, Direktorin des Institute of Government, begleitete Maitlis Einschätzung mit einer Warnung: „Es geht nicht nur um Wandel. Es sind Menschen an der Macht, die bereit sind, die Grenzen der Verfassung auszutesten, um ihre Ziele zu erreichen.“
Neoliberalismus und EU-Bashing
Seit dem Erfolg der Brexitiers ist in Großbritannien nichts mehr wirklich schockierend, auch nicht die Lügen eines Boris Johnson, für die er sich zwar am Ende verantworten musste, dem aber immer noch die Herzen seiner Wähler zufliegen. 35 Prozent der Mitglieder seiner Partei sind weiterhin der Ansicht, sein Rücktritt sei gar nicht notwendig gewesen.
Und nun kommt Liz Truss, die auch modisch das Erbe von Margaret Thatcher antreten möchte und zu alten Rezepten aus der Küche ihres großen Vorbildes greift, so als hätte es die Finanz- und Wirtschaftskrise sowie die Lehren einer gescheiterten Austeritätspolitik nie gegeben. Die Zutaten sind bekannt: Steuersenkungen, schlanker Staat, Liberalisierung, Abbau von Regularien. Das Ganze wird gewürzt mit einer kräftigen Prise EU-Bashing.
Die von ihren Anhänger*innen als Thatcher 2.0 gefeierte Politikerin zeichnet das Bild eines quasi-sozialistischen Großbritanniens, welches (auch nach zwölf Jahren Tory-Regierung) von „drückender Bürokratie befreit“ gehöre. Die studierte Ökonomin legte einen Sechs-Punkte-Plan vor, der trotz immenser Haushaltschulden, der Pandemie, eines geschröpften Nationalen Gesundheitsdienstes, der Klimakrise und elf Prozent Inflation als erste dringende Maßnahme Steuersenkungen vorsieht. Alle EU-Richtlinien werde sie – wider besseren Wissens um das Handels- und Kooperationsabkommen – bis 2023 abbauen. Auch Möglichkeiten, den britischen Arbeitsmarkt weiter zu deregulieren, spielt sie in ihren Plänen durch, obgleich das Land diesbezüglich bereits auf dem letzten Rang aller OECD-Länder liegt. Nicht zuletzt gehöre auch das Mandat der Zentralbank auf den Prüfstand, so Truss.
Unruhen in großen Städten drohen
In mehreren Städten des Landes, so befürchten Sozialverbände, könnten diesen Winter gewalttätige Unruhen ausbrechen. In London, Birmingham, Leeds oder Bristol könnte es infolge der Vernachlässigung sozialschwacher Gegenden zu Plünderungen und massiven Auseinandersetzungen mit der Polizei kommen. Viele Menschen sind schlichtweg verzweifelt. Die Jahresrechnungen für Strom- und Gas werden im Oktober auf umgerechnet circa 4.000 Euro und im Januar auf 5.800 Euro steigen. Haushalte mit niedrigem Einkommen bringen bereits jetzt 59 Prozent ihres Budgets für diese Kosten auf. Die bislang von der Regierung ergriffenen Maßnahmen stützen sich auf unzureichenden Berechnungen von nur 1.700 Euro im Jahr. Ohne weitere Maßnahmen, so projiziert der Think Tank Resolution Foundation, wird das durchschnittliche reale Haushaltseinkommen im Jahr 2022-23 um fünf Prozent und im Jahr 2023-24 um weitere sechs Prozent fallen. Das Land sei auf dem Weg in zwei Jahrzehnte realen Einkommensverlustes. Die Anzahl der Menschen, die in absoluter Armut leben müssten, so das Institut, werde bis ins Jahr 2024 von elf auf 14 Millionen steigen. Bei 67 Millionen Brit*innen wäre das jeder Fünfte.
Diese Mixtur ergibt das perfekte Rezept für einen neuen Winter of Discontent, für Streiks, wohl sehr laute Demonstrationen und eine weiter zunehmende politische Polarisierung. Will Liz Truss diesem sozialen Druck wie eine „Eiserne Lady“ begegnen? Wird sie die zutiefst gespaltene Konservative Partei bei weiteren Umfrageeinbußen zusammenführen können? Oder wird jemand im Windschatten der vorhersehbaren Krise – ähnlich wie sein Vorbild Churchill – eine zweite Chance suchen? Boris Johnson weigerte sich in dieser Woche, ein Comeback auszuschließen. Noch immer sieht er sich als Volkstribun.
Liz Truss wird dem Populismus im Königreich endlich Einhalt gebieten müssen, sonst wird sie selbst vom Wintersturm hinweggefegt: „Liz, Liz, Liz – out, out, out!“
Am 5. September erschienen im IPG-Journal.