International

Kulturkampf am Bosporus

von Michael Meier · 10. Juni 2013

Der türkische Ministerpäsident Recep Tayyip Erdoganhat geschafft, was noch keiner vor ihm vermochte: Er brachte die gesamte Opposition gegen sich und seine Regierung auf die Straße. 

Studenten und Hausfrauen, Kommunisten, Nationalisten und Kemalisten, Anhänger der drei eigentlich verfeindeten großen Fußballclubs, Gewerkschafter und LGBT-Gruppen, sämtliche Oppositionsparteien, NGOs und Umweltschützer protestieren gemeinsam gegen die Regierungspolitik.

In den vergangenen zwei Wochen erlebte die Türkei bisher nicht gekannte Massenproteste mit mehr als 1 Million Menschen vor allem in Istanbul sowie in Ankara, Izmir und fast allen der 81 Provinzen der Türkei. Bisher sind drei Menschen gestorben, fast 5.000 Menschen wurden verletzt, tausende wurden verhaftet, der materielle Schaden ist immens. Auch in vielen Städten in Deutschland und Europa fanden Unterstützungsdemonstrationen statt. 

Begonnen als Protest gegen die Fällung von Bäumen auf dem zentralen Istanbuler Taksim-Platz steht mittlerweile aber die gesamte Regierungspolitik Erdogans zur Debatte, wird ihr Polarisierung, Intransparenz, undemokratisches und autoritäres Verhalten vorgeworfen. Die Polizei versuchte zunächst, mit extremer Härte den Protest zu unterdrücken. Nachdem die jungen Protestierer aber von zehntausenden Bürgern unterstützt wurden, zogen die Polizeikräfte ab. Dennoch gibt es immer noch Demonstrationen und Zusammenstöße mit der Polizei, sind weite Teile der Innenstadt blockiert. Der Taksim-Platz ist weiterhin von tausenden Menschen besetzt, ein Hauch von Occupy-Bewegung weht über die derzeit friedliche Kulisse.

Die Gräben vertiefen sich

Die Umbaupläne für den Taksim-Platz brachten das Fass zum Überlaufen. Denn es kamen mehrere Ereignisse zusammen, die vielen Menschen das Gefühl gaben, die Regierung setze ihre Auffassungen gegen jeden Widerstand durch. In der Summe erklären sie die Proteste der Menschen. Politische Beobachter sprechen von einem Kulturkampf, der sich beschleunigt hat und die Gräben zwischen den Bevölkerungsgruppen vertieft.

Am 29.Mai wurde der Grundstein für die umstrittene dritte Bosporus-Brücke gelegt, für die Millionen Bäume geschlagen werden und die den bisher grünen Norden Istanbuls in eine Betonwüste verwandeln wird. Neue Millionenstädte sollen zusammen mit einem Mega-Flughafen entstehen und nicht zuletzt sind ein zweiter Bosporus-Kanal sowie eine riesige Moschee auf dem höchsten Berg Istanbuls geplant. Umweltbelange werden nicht berücksichtigt, Proteste sind erfolglos, auch weil sie nicht die große Masse der modernitätsorientierten Türken erreichen.

Der Name der neuen Brücke, Yavuz Sultan Selim, entfachte einen Sturm der Entrüstung unter Aleviten. Während er für die Sunniten der Eroberer der heiligen Stätten Mekka und Medina ist, der zudem erfolgreich die schiitischen Truppen der Perser geschlagen hat, verbinden Aleviten mit diesem Sultan brutale Massaker gegen ihre Vorfahren. Die Namenswahl symbolisiert so die weitere Spaltung der Gesellschaft und gilt bei den Aleviten als bewusste Provokation der Regierung.

Erdogans Äußerungen waren bisher undenkbar

Die Verabschiedung eines Gesetzes zur Einschränkung des Verkaufs von Alkohol wurde von vielen Menschen als Eingriff in ihren Lebensstil empfunden, denn der relativ geringe Alkoholverbrauch der Türken (jährlich 1,5 Liter Alkohol pro Kopf, einschließlich der 32 Millionen Touristen, gegenüber 10,7 Litern im EU-Durchschnitt) taugt kaum als Begründung für diese Verschärfung. Schlimmer als das Gesetz waren die Kommentare Erdoğans, der aufforderte, doch zu Hause zu trinken. Zudem hatte er sich im Parlament auf Religion und Koran berufen – für die säkulare Türkei bisher undenkbar. Gängelung, Islamisierung und Gleichschaltung lauteten deshalb die gängigsten Vorwürfe.

Diese Themen kulminierten und fanden ihr Ventil am Taksim-Platz in Istanbul. Die Brutalität des Polizeieinsatzes war Auslöser der Proteste, aber es drückte sich auch das Unwohlsein vieler Menschen mit der wirtschaftlich erfolgreichen, aber zunehmend autokratischer regierenden AKP aus. Das Präsidialsystem soll in der neuen Verfassung verankert werden, Regierungsvorhaben werden ohne große Diskussionen und ohne ausreichende Information der Opposition im Parlament verabschiedet, Kritik wird nicht aufgenommen, Bürgerbeteiligung gibt es kaum, Kompromisse werden nicht gemacht, das schleichende Gift absoluter Macht zieht sich durch nahezu alle Bereiche. 

Weitere Kritikpunkte der Demonstranten sind die Bildungsreform, die monumentalen Großprojekte, die Privatisierung wichtiger Bereiche der Grundsicherung (Wasser, Energie, Verkehr). Selbst das wichtigste innenpolitische Thema, die Lösung der Kurdenfrage, wird unter Ausschluss von Parlament und Öffentlichkeit zwischen Geheimdienst und PKK verhandelt.

"Diktatur der Mehrheit"

Wichtigste Legitimation Erdogans sind immer wieder die Wahlergebnisse von 50 Prozent der Stimmen, weshalb Beobachter bereits von einer Diktatur der Mehrheit sprechen. Er trägt zudem mit zuspitzenden Äußerungen zur Eskalation bei, nennt die Demonstranten „Marodeure“, macht die Opposition und das Ausland verantwortlich und hat für kommendes Wochenende seine eigenen Anhänger zu Demonstrationen aufgerufen.

Ein gespenstisches Bild gaben die türkischen Medien ab. In den ersten Tagen gab es einen Boykott der Berichterstattung, berichtete CNN International früher von den Demonstrationen als CNN Türk. Die Medien sind durch Einflussnahme der Regierung aber vor allem indirekten Druck durch die Eigentümer, die wirtschaftliche Interessen vor Informationsinteressen stellen, paralysiert. Die Rolle der Berichterstattung übernahmen die sozialen Medien, die Erdoğan wiederum als größte Bedrohung der Gesellschaft brandmarkte.

Die Balance der Macht ist in der Türkei aus den Fugen geraten: glücklicherweise nicht durch das in der Vergangenheit allgegenwärtige Militär als Hüter der Republik, sondern durch den fehlenden Ausgleich einer starken Regierung durch Parlament, Justiz und eine freie Presse.

Die Zivilgesellschaft entwickelt sich erst

Diese für eine Demokratie so wichtigen Instanzen funktionieren aus unterschiedlichen Gründen nicht: Die AKP dominiert das Parlament und die Justiz. Eine Zivilgesellschaft entwickelt sich erst sehr langsam und die politische Opposition kann keine konstruktive Alternativen anbieten oder den politischen Protest kanalisieren. Interessant ist das Profil der Demonstranten: zu zwei Dritteln unter 30 Jahre, zu 54 Prozent erstmalig bei Protesten dabei. 70 Prozent fühlen sich keiner Partei nahe. Mehr als 90 Prozent wollen ein Ende der Polizeibrutalität, kritisieren den autoritären Regierungsstil und fordern mehr demokratische Rechte.

Die 2011 mit fast 50 Prozent der Stimmen gewählte AKP-Regierung, geht gegen ihre Kritiker oder auch nur Andersdenkende oder -lebende zunehmend intolerant vor und beschneidet fundamentale Rechte und Freiheiten. Selbst innerhalb der AKP formiert sich Widerspruch, rufen Präsident Gül und der stellvertretende Ministerpräsident Arinç zu Ruhe, Besonnenheit und Ausgleich auf. Staatspräsident Gül betonte, dass Demokratie nicht nur auf Wahlen beschränkt ist. Es brauche auch eine demokratische Kultur, die notwendigen Institutionen und Rechtsstaatlichkeit.

Erstmals in der Geschichte der Republik forderte eine starke Protestbewegung Demokratie, die Respektierung von Menschenrechten und bürgerlichen Freiheiten. Menschen bekommen erstmals das Gefühl, tatsächlich etwas bewegen zu können. Wenn die Proteste der vergangenen Tage einigermaßen friedlich bleiben und ein Gespräch mit der Regierung möglich ist, könnte dies der Beginn einer neuen Demokratisierungswelle sein.

Michael Meier ist Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in der Türkei.

Nachtrag vom 10. Juni, 16:30 Uhr:
Der SPD-Parteivorstand hat eine Resolution zur Lage in der Türkei verfasst. Darin fordert die SPD die türkische Regierung auf, die Gewalt zu beenden und in einen Dialog zu treten. Die EU und die Bundesregierung solle in den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei die Kapitel zur Rechtsstaatlichkeit öffnen, um den Demokratisierungsprozess voranzutreiben. Zur Resolution geht es hier.

Autor*in
Michael Meier

ist seit 2014 Landesvertreter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Washington D. C.

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