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Krieg in der Ukraine: Wie eine Journalistin ihre Flucht erlebt hat

Als am 24. Februar der russische Angriffskrieg in der Ukraine beginnt, flieht die Journalistin Olesya Yaremchuk mit ihrem Mann und ihrer Tochter aus Lviv. Sie berichtet von ihren Erlebnissen und wie sie damit umgeht, was in ihrem Land passiert.
von Olesya Yaremchuk · 22. März 2022
Schon am Morgen des russischen Überfalls flieht Olesya Yaremchuk aus der Ukraine.
Schon am Morgen des russischen Überfalls flieht Olesya Yaremchuk aus der Ukraine.

„Olesya, der Krieg hat begonnen!“ So weckte mich mein Mann am 24. Februar um 5 Uhr morgens. Ich war mit meiner eineinhalbjährigen Tochter in der Wohnung meiner kranken Mutter. Sie konnte nach zwei Schlaganfällen nicht mehr laufen, also habe ich mich um sie gekümmert. Erst in der Nacht zuvor bekamen wir vom Reha-Zentrum „grünes Licht“, dass wir sie zur Behandlung dorthin transportieren dürfen. Ich wachte auf und fragte fassungslos: „Was?“

„Olesya, der Krieg hat begonnen!“

„Die Russen beschießen Mariupol, Sumy, Kharkiv, Schytomyr, Kyiv! Wir müssen fahren.“ Ich konnte es nicht glauben und fragte verwundert: „Wann, jetzt?“ – „Ja, wann denn sonst? Wenn sie vor unserer Tür stehen?“ Neben mir im Bett schlief friedlich meine Tochter. Mir schwirrte im Kopf nur ein Gedanke: Wir müssen sie retten. Ich sammelte hastig unsere Sachen, nur das Nötigste.

Als wir zu unserem Haus kamen, fing ich an, mich aufzuregen, dass es so dreckig bei uns ist und dass Berge von ungewaschenem Geschirr auf dem Tisch stehen. „Wie konntest du das einfach so stehen lassen? Wenn wir in zwei Wochen zurückkommen, wird hier alles stinken!“ Wie lächerlich mir jetzt diese Worte erscheinen. Aber am Morgen des 24. Februar schrie ich meinen Mann an, weil die Wohnung schmutzig war und er den Müll nicht weggeschmissen hatte.

Um 7 Uhr fuhren wir bereits in Richtung der rumänischen Grenze. Und schon wenige Stunden später stauten sich Tausende von Autos an den Grenzen.

Erstarrung

Es fällt mir schwer, die richtigen Worte zu finden, um zu beschreiben, was ich fühlte, als ich im Auto saß. Angst. Furcht. Panik. Wie können wir wegfahren? An diesem Tag hätte ich den Behindertenausweis meiner Mutter abholen müssen. Wird es wirklich möglich sein, sie später aus dem Land zu bringen? Ich rief nacheinander jede*n meiner Verwandten und Freund*innen an, um zu fragen, wie es ihnen geht und wo sie sind. Ich wollte sie nicht verlassen. Meine Tante sagte mir, dass ein Militärstützpunkt in Kamianka-Buzka beschossen worden ist. Es wackelten die Fenster in ihrem Haus. Das Haus nebenan gehört meiner Oma. In diesem Haus habe ich einen Teil meiner Kindheit verbracht.

Ich redete mir ein, dass dies nur vorübergehend sei. Das ist ein Bluff. Das kann doch nicht sein. Wer löst im 21. Jahrhundert Probleme mit Krieg? Unsere Reise nach Deutschland dauerte drei Tage. Mit einem kleinen Kind muss man oft Pause machen. Dabei überquerten wir zwei Grenzen: die ukrainisch-rumänische und die rumänisch-ungarische. Merkwürdig war, dass wir mehr als drei Stunden an der Rumänisch-Ungarisch Grenze festgehalten wurden, obwohl nur wenige Autos in der Schlange standen. Mein Mann geriet mit dem Zollbeamten aneinander, weil dieser uns absichtlich nicht durchließ und schikanierte. Wir hatten nur zwei kleine Koffer mit Kleidungsstücken dabei. Meine müde Tochter weinte ständig.

Albtraum

Alles, was nach dem 24. Februar passiert ist, ist ein Albtraum. Hunderte Menschen sind getötet worden und Tausende sind verwundet. Auf den Fotos in den Nachrichten – bombardierte Häuser. Meine Freundin aus Kyiv und ihr Freund fliehen unter Beschuss nach Lviv. Meine ehemalige Kollegin sitzt mit ihrem kleinen Sohn im Keller in der Hauptstadt. Sie hat keine Möglichkeit rauszufahren. Mein Journalistenkollege aus Kherson verließ das Haus, um sich mit jemanden zu treffen und kehrte nicht zurück.

Die Menschen, mit denen ich für meine Reportage über die Griech*innen in Mariupol gesprochen habe – ich habe ein Buch über nationale Minderheiten in der Ukraine geschrieben – sind mehr als zwei Wochen nicht mehr erreichbar. In der Stadt gibt es keinen Strom, keine Heizung und kein fließendes Wasser. Der Mann, der an einem Literaturwettbewerb teilgenommen hat, in welchen ich in der Jury war, steht bereits in Uniform an einem Blockposten in der Nähe von Sewerodonezk. 

Mein Cousin ist in der Bürgerwehr. Er ist Dekan der philologischen Fakultät der Lviver Universität. Mein Patenonkel fährt Schutzwesten und Helme, medizinische Ausrüstung und humanitäre Hilfe direkt an die Front. Meine Tante, die als Krankenpflegerin arbeitet, spricht mit Entsetzen davon, was in den Krankenhäusern los ist. Die Ukraine blutet.

Unmenschlichkeit

Es gibt nichts, worüber ich mich beschweren könnte. Ich habe ein Dach über dem Kopf. Die Großmutter unserer Tochter lebt in Deutschland. Mein Mann ist Ukrainer mit deutscher Staatsbürgerschaft. Er gründete übrigens die erste Tafel in der Ukraine. Ich spreche Deutsch. Ich werde zurechtkommen.

In den ersten Tagen hat mich das Gefühl nicht verlassen, dass ich jetzt zu Hause sein müsste, in Lviv. Ich würde den Freiwilligen helfen, Essen für das Militär zubereiten und Tarnnetze weben. Jedoch habe ich eine kleine Tochter. In meiner Stadt ertönt der Bombenalarm mehrmals täglich. Das bedeutete, dass wir nachts im Keller sitzen müssten.

Meine Mutter ist gerade noch in einem Rehabilitationszentrum in der Nähe von Lviv. Sie kann schon laufen! Ehrlich gesagt ist es ein Wunder, denn als wir sie aus dem Krankenhaus holten, konnte sie nur die Finger einer Hand bewegen. Ich hoffe, dass mein Mann sie in einer Woche abholen wird.

„Was derzeit in der Ukraine passiert, ist unmenschlich“

Es ist kaum vorzustellen, welches Trauma und Angst kleine Kinder in der Ukraine durch diese Ereignisse haben. Nicht nur Bombenalarm und Nächte in kalten Kellern. Jene Kinder, die die Leichen ihrer Eltern unter den Trümmern sehen. Diejenigen, die ihre Arme und Beine verlieren, weil auf sie geschossen wird, wenn ihre Familien versuchen, durch humanitäre Korridore zu fliehen. Diejenigen, die zusammen mit Hunderten anderer im Luftschutzbunker des Mariupoler Theaters saßen. Ihr habt wahrscheinlich schon gehört, dass in der Nähe dieses Theaters auf russisch mit riesigen Buchstaben „KINDER“ geschrieben stand. Die Russ*innen warfen trotzdem eine Bombe auf das Theater.

Was derzeit in der Ukraine passiert, ist unmenschlich. Die Russ*innen bombardieren alles und jede*n – egal ob Militärplatz oder einfaches Wohnhaus. Tausende von Zivilist*innen sind getötet worden. Mütter und Kinder werden erschossen. Häuser werden geplündert. Frauen werden vergewaltigt. Ich finde es unerträglich, dass all dies unter anderem dadurch finanziert wird, dass Deutschland weiterhin russisches Gas kauft. Wenn ich jetzt zum Dialog mit Russland aufgerufen werde, bin ich erschüttert. Wie können wir mit Menschen sprechen, die in dein Haus eingebrochen sind und allen töten?

Mein Leben wird nie wieder so sein wie vor 5 Uhr morgens am 24. Februar.

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Autor*in
Olesya Yaremchuk ist ukrainische Journalistin und Schriftstellerin.
Olesya Yaremchuk

ist eine ukrainische Journalistin und Schriftstellerin.

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