Krieg in der Ukraine: Warum wir mehr Diplomatie wagen müssen
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Die AG 60 Plus in der SPD fordert mit Blick auf den Krieg in der Ukraine „Mehr Diplomatie wagen – keine weitere Eskalation“. Was ist gemeint?
Momentan erleben wir einen schrecklichen Gewöhnungseffekt an diesen Krieg. Dieses sich gegenseitige Aufschaukeln von Medienvertreter*innen und Politiker*innen, allen voran Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die ja eigentlich Vorsitzende des Verteidigungsausschusses ist, oder auch von Anton Hofreiter oder Friedrich Merz. Sie alle befinden sich in der gleichen Kriegslogik wie der ukrainische Präsident Selenskyj: Auf jede Zusage einer Lieferung erfolgt unmittelbar eine neue Forderung nach noch mehr Kriegsgerät oder schnellerer Lieferung, was zwangsläufig zu einer Zuspitzung des militärischen Konflikts führt. Diese scheinbare Alternativlosigkeit bestimmt den Dialog und gibt eine Richtung vor: die heißt Militarisierung. Mit unserer Erklärung wollen wir den Raum öffnen und zeigen, dass es auch eine andere Richtung geben kann.
Wie könnte diese andere Richtung aussehen?
Bundeskanzler Olaf Scholz hat den Grundstein durch bilaterale Verhandlungen, etwa mit Xi Jinping, Lula da Silva oder Joe Biden bereits gelegt. Auch der Gesprächsfaden mit Russlands Präsident Wladimir Putin darf nicht abreißen. Der Kanzler hat immer internationale Abstimmung angestrebt und das Ende mitgedacht. Das erkennen wir an seiner Formulierung: „Russland darf den Krieg nicht gewinnen“. Auf dem Schlachtfeld gibt es keine Gewinner. Deshalb fordert der Bundesvorstand der AG SPD 60 plus: „Mehr Diplomatie wagen“ – die Erinnerung an Willy Brandt ist dabei nicht zufällig. Für uns ist es an der Zeit, stärker auf diplomatische Anstrengungen zu setzen, um auch weiterhin unter internationaler Beteiligung zu Waffenstillstands- und Friedensgesprächen zu kommen.
Die jüngste Ankündigung des brasilianischen Präsidenten Lula, gemeinsam mit China und anderen Staaten eine entsprechende Initiative zu starten, sollte nachdrücklich unterstützt werden. Aber auch Deutschland sollte eine Friedensplattform anbieten. Da werden sich aktuell nicht alle gleich versammeln, zumal Deutschland Waffen liefert. Und es ist schwer, gleichzeitig Waffen zu liefern und Friedensgespräche anzubieten, gleichwohl sollten wir in diese Richtung gehen. Hier sind die Ziele eindeutig: Am Ende von Diplomatie und Friedensgesprächen steht Frieden.
Warum verläuft die Entwicklung so eingleisig, wie Sie sagen?
Offensichtlich haben alle „Experten“, auf die sich viele stets verlassen haben, mit diesem Militärschlag einfach nicht gerechnet und im Überraschungsmoment auf gleicher Ebene reagiert: Gleiches mit Gleichem vergelten. Um solche Konflikte aber wirksam zu lösen, müssen wir die Perspektive ändern. Wenn jeder Waffeneinsatz zu einem noch stärkeren Waffeneinsatz führt, ist die Frage berechtigt, wo das enden soll. Diese Frage kann zurzeit niemand beantworten. Wir wissen: Auf dem Schlachtfeld verlieren immer alle Seiten (außer der Rüstungsindustrie) und alles Gerede von einer „roten Linie“ ist ohne Wert, denn die rote Linie wird nach Belieben verschoben – tatsächlich liegt sie jenseits des Untergangs. Deshalb müssen wir einen neuen Pfad einschlagen. Statt des einseitigen Kurses, sich auf militärische Maßnahmen zu reduzieren, muss, ganz im Sinne des SPD-Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich, endlich das gesamte Arsenal diplomatischer Werkzeuge zum Einsatz kommen.
Der Philosoph Jürgen Habermas nennt es in einem Beitrag in der Süddeutschen Zeitung fatal, dass der Unterschied zwischen „nicht verlieren“ und „siegen“ nicht geklärt sei. Kommt das diesen Überlegungen nahe?
Ja. Diese zwei Dinge sind unklar. Aber wer Angriffswaffen fordert, muss erklären, was „siegen“ bedeutet. Scholz erklärt, dass Russland nicht gewinnen darf – ich übersetze „nicht gewinnen“ so, dass die Ukraine nicht unterjocht werden darf – andere fordern, Russland müsse verlieren. Doch selbst, wenn eine der Seiten militärisch gewinnt, wird es keinen Frieden geben, da wird ein Brandherd bleiben. Ein militärischer Sieg macht keinen Frieden und es kann auch keinen europäischen Frieden ohne Russland geben. Vor diesem Hintergrund lehnen wir die Lieferung weiterer Angriffswaffen, Panzer, Kampfflugzeuge oder Kriegsschiffe an die Ukraine ab. Sie wirken allen diplomatischen Anstrengungen und Angeboten, sowie einer möglichen Verhandlungslösung entgegen. Das heißt nicht, dass sich die Ukraine überrennen lassen soll. Vielmehr müssen wir die Ukraine in einer Verteidigungsstrategie unterstützen. Wir müssen sie in der Verteidigung stark machen etwa durch Flugabwehrsysteme.
Die AG 60 plus in der SPD unterstützt die ablehnende Haltung von Bundeskanzler Scholz gegenüber den geforderten Kampflugzeugen und Kriegsschiffen. Auch sehen wir sein Nachdenken, in den Medien oft als Zögerlichkeit kritisiert, als Stärke. Dass er als Zögerer beschimpft wird, von Leuten die zwischen Nachdenklichkeit und Zögerlichkeit nicht unterscheiden können, von Leuten, die unter Führung verstehen, im Falschen voranzugehen, statt sich mit möglichst vielen abzustimmen und dann gemeinsam die richtige Richtung zu suchen und zu gehen, verrät uns, wie sehr solche Leute in ihrer Kriegslogik gefangen sind und warum wir ihnen nicht folgen dürfen.
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hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.