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Krieg in der Türkei: Die Spirale der Gewalt dreht sich weiter

Die Kämpfe zwischen Regierung und PKK haben die Städte der Südosttürkei erreicht. Emma Sinclair-Webb von Human Rights Watch ist in die Region gereist und berichtet von bürgerkriegsähnlichen Zuständen.
von Kristina Karasu · 12. Januar 2016
Kämpfe in der Südosttürkei
Kämpfe in der Südosttürkei

Sie waren in den letzten Tagen in der Kurdenhochburg Diyarbakır, in deren Altstadt Sur türkische Sicherheitskräfte seit Anfang Dezember gegen die PKK-Jugendorganisation YDG-H vorgehen. Was für Zustände herrschen dort?

Als ich dort war, gab es sehr heftige Kämpfe. Ich war nicht in Sur, sondern direkt außerhalb der historischen Stadtmauer. Von dort aus konnte ich den Rauch sehen, hörte Explosionen, Gewehrfeuer von Kalaschnikows und schweren Granaten in der Nachbarschaft.

Warum finden die Gefechte gerade dort statt?

Der historische Stadtkern von Diyarbakir besteht aus engen Gassen und Häusern, manche mehr als 400 Jahre alt. Die bewaffnete PKK-Jugendorganisation YDG-H hat dort seit dem letzten Sommer Schützengräben ausgehoben und Barrikaden errichtet, die sie bewaffnet und maskiert bewachen. In anderen südosttürkischen Städten wie Cizre oder Silopi bietet sich ein ähnliches Bild. Die Kurdenkämpfer erklären, dass sie damit ihre Festnahmen durch den Staat verhindern wollen. Wir können nur schwer beweisen, ob das stimmt oder nur ein Vorwand ist, um einen Teil der Stadt zu kontrollieren. Natürlich würde sich jede Regierung der Welt über solche Zustände sorgen. Die Taktik des Staates ist es nun, in diese Viertel einzumarschieren, die Barrikaden zu zertrümmern und die Kämpfer zu entfernen. So eine heftige Bombardierung mitten im Stadtzentrum – das ist neu im Kurdenkonflikt. 

Für die Bewohner von Sur und anderen Städten der Region herrschen daher seit Anfang Dezember immer wieder Ausgangssperren – leben dort überhaupt noch Menschen?

Viele Menschen wurden evakuiert und wer konnte, ist zu Verwandten in anderen Vierteln geflohen – es ist einfach zu gefährlich dort. Doch manche können nirgendwohin, andere bleiben, weil ihre Kinder sich den kurdischen Kämpfern angeschlossen haben – es ist sehr kompliziert. Beide Seiten haben einen großen Anteil daran, dass der Konflikt eskaliert ist und in die Städte getragen wurde. Doch die Taktik des Staates müssen die Zivilisten teuer bezahlen.

Wie sieht der Alltag von denen aus, die geblieben sind?

Es gibt zahlreiche Beschränkungen von Grundrechten wie das Recht auf Nahrung oder Wasser, oft gibt es keinen Strom. Die Menschen können ihre Häuser nicht verlassen, alle Geschäfte sind geschlossen. Besonders besorgniserregend ist, dass anscheinend der Zugang zu medizinischer Versorgung verwehrt wird. Manche Zeugen berichten, dass Menschen starben, weil sie nicht rechtzeitig medizinisch versorgt wurden, keine Krankenwagen in das Viertel durften. Noch heute morgen habe ich mit einer Familie telefoniert, die mit 26 Personen, darunter 18 Kindern, seit Tagen in einem Keller in Cizre festsitzen, eingeschüchtert von dem Gewehrfeuer draußen. Alles was sie besitzen, ist dieses Haus, sie können nirgendwo hingehen. Viele von diesen Menschen haben bereits in den 90er Jahren alles verloren, als sie wegen dem PKK-Konflikt vom Staat aus ihren Dörfern vertrieben wurden. Sie haben eine traumatische Geschichte hinter sich – und erleben dies nun erneut.

Wie viele Todesopfer gibt es dort?

Wir können nicht dokumentieren, wie viele Tote es gibt, denn weder die Zahlen der PKK noch der Regierung können unabhängig verifiziert werden. Das ist eines der größten Hindernisse, um diese Situation zu beobachten. Am alarmierendsten ist, dass die Regierung noch immer nicht eingesteht, dass es zivile Todesopfer gibt. Die türkische Generalstab hat am Wochenende verkündet, in den Ausgangssperren und Militäroperationen in den südosttürkischen Städten Cizre, Silopi und Diyarbakır seien seit Anfang Dezember 448 Kämpfer getötet worden, aber keine Zivilisten. Gleichzeitig verkündete die türkische Menschenrechtsorganisation TİHV, an diesen Orten seien in den letzten Wochen ca. 90 Kinder, Frauen und ältere Menschen getötet worden – es ist klar, dass dies Zivilisten waren. Wir fordern eine genaue Aufklärung ihrer Todesumstände.

Wen machen die Menschen in der Region für die Zustände verantwortlich?

Es herrscht ein großes Misstrauen gegen den Staat, ein Gefühl, dass dies eine äußerst brutale Militäroperation ist. Das wurde mir gegenüber oft geäußert. Viele sehen das Vorgehen der PKK-Jugend als legitimen Kampf für kurdische Rechte, manche Teile der Bevölkerung fühlen sich loyal zu ihnen. Gleichzeitig will generell niemand einen Krieg in den Städten. Es herrscht eine große Erschöpfung und Desillusionierung darüber, dass der Friedensprozess gescheitert und man im letzten Sommer so schnell zum Krieg zurückgekehrt ist. Dementsprechend sieht die Bevölkerung beide Seiten als problematisch. Zwar haben staatliche Behörden erklärt, man würde die zerstörten Stadtviertel wieder aufbauen – doch das Vertrauen wird man so schnell nicht wieder aufbauen können. Wie will man nach so einem Gewaltlevel wieder zurückkehren zu politischen Verhandlungen und einem Friedensprozess? Das jetzige Vorgehen ist extrem kurzsichtig.

In türkischen Medien wird kaum über diese Zustände berichtet...

Es ist extrem alarmierend, dass in den letzten Wochen zahlreiche Journalisten festgenommen wurden, die aus der Region berichteten wollten, besonders Journalisten der kurdischen Medien. Zudem haben wir eine Medienlandschaft in der Türkei, die größtenteils von der Regierung kontrolliert wird. Deswegen gibt es nur wenige unabhängige Berichte darüber, was in der Region wirklich vor sich geht. Gleichzeitig ist jeder, der zu Frieden aufruft, extrem gefährdet, verhaftet zu werden, jede Art von Demonstration wird sofort zerschlagen. So hat am Freitag eine Frau aus Diyarbakir in der populären TV-Talksendung Beyaz Show angerufen und darüber geklagt, dass dieser Konflikt im Rest des Landes überhaupt kein Thema sei. Sie appellierte daran, dass keine Kinder mehr sterben dürften. Daraufhin hat die Staatsanwaltschaft gegen den TV-Sender Ermittlungen wegen Terror-Propaganda eingeleitet. Das zeigt den Grad an Zensur in diesem Land. Eine öffentliche Debatte oder politische Verhandlungen werden dadurch unmöglich gemacht.

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Kristina Karasu

arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.

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