Klingbeil: „Deutschland muss den Anspruch einer Führungsmacht haben.“
Fionn Große
Einer der ersten historischen Vergleiche, den Lars Klingbeil in seiner Grundsatzrede zieht, ist der Fall der Mauer in Berlin. 11 Jahre alt war der Parteivorsitzende damals. „Der Kalte Krieg war vorbei“, sagt Klingbeil auf der Tiergartenkonferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung. Es ist einer dieser Momente, die aus Sicht des Parteivorsitzenden einen epochalen Umbruch bedeuten. Genauso wie die Terroranschläge am 11. September 2001 auf die USA, als Klingbeil 23 Jahre alt war und die Anschläge vor Ort in New York miterlebte. Der russische Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 ist für Klingbeil ebenso ein solcher, historischer Moment.
(Zur kompletten Grundsatzrede von Lars Klingbeil im Wortlaut)
„Wir stehen vor einer riesigen Gestaltungsaufgabe“, sagt Klingbeil am Dienstag, der in seiner Grundsatzrede einige Grundpfeiler für eine neue deutsche Außen- und Sicherheitspolitik aus sozialdemokratischer Perspektive definiert. Allerdings: Ohne Anspruch auf Vollständigkeit. „Ich will diese Debatte“, erklärt er vielmehr zu Beginn seiner Rede, fordert Widerspruch ein.
Zeitenwende als Aufgabe für Jahrzehnte
Was der Parteivorsitzende aber für sich beansprucht: Die Zeitenwende, wie Bundeskanzler Olaf Scholz den Überfall Russlands auf die Ukraine definierte, ist auch für Klingbeil eine Zäsur. „Die Zeitenwende wird uns viel abverlangen“, zeigt sich der Sozialdemokrat überzeugt, „die Umbrüche haben Auswirkungen auf unser Zusammenleben und die politische Agenda für die nächsten Jahrzehnte“.
Klingbeil sieht die Welt gegenwärtig inmitten einer Vielzahl von Krisen: Neben dem Krieg zählt er außerdem den Klimawandel, die Pandemie, die gesellschaftliche Spaltung aber auch die Inflation und drohende Hungersnöte in der Welt als Beispiele auf. Krisen, die sich aus seiner Sicht gegenseitig verstärken und zusammenhängen. „Diese Krisen stellen uns vor grundlegende Fragen“, sagt Klingbeil. „Mein Anspruch als Parteivorsitzender ist, dass wir Antworten auf diese Fragen geben, dass wir die Zukunft gestalten und dass wir das gemeinsam tun.“ Anders als bei den von ihm zuvor aufgezählten historischen Momenten sei er nun 44 Jahre alt, trage Verantwortung als SPD-Vorsitzender.
Machtzentren als neue Weltordnung
„Am 24. Februar hatte ich noch keine Antworten“, gibt Klingbeil zu. Nun, knapp vier Monate später, allerdings schon: Klingbeil skizziert auf der Konferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung eine neue Weltordnung, die sich aus seiner Sicht bildet. Eine Weltordnung, die auf Machtzentren basiert. Die attraktiv sind, denen sich Staaten aus eigenem Antrieb heraus anschließen. Eines dieser Machtzentren ist aus Sicht von Klingbeil Europa, an der Seite der USA, von Japan und Australien. „Unsere Aufgabe muss sein, dass wir das attraktivste Zentrum sind“, gibt Klingbeil als Motto für die kommenden Jahre aus – in Konkurrenz beispielsweise zu China und Russland.
Doch welche Rolle spielt Deutschland als einzelne Nation in dieser neuen Weltordnung? Aus Sicht des SPD-Chefs eine sehr bedeutende – was auch heute schon sichtbar ist: Deutschland habe sich in den vergangenen Jahrzehnten auf der internationalen Bühne großes Vertrauen erarbeitet. „Damit geht aber eine Erwartungshaltung einher“, ist Klingbeil überzeugt. „Deutschland steht immer im Mittelpunkt“, meint er mit Blick auf die Diskussionen der vergangenen Wochen. „Wir sollten diese Erwartungen erfüllen“, ist er überzeugt – und ist zuvor sehr deutlich: „Deutschland muss den Anspruch einer Führungsmacht haben.“
Deutschland als Führungsmacht in Europa
Diese Führung will Klingbeil allerdings anders verstanden wissen als in der Vergangenheit: nicht „breitbeinig und rabiat“, sondern „kooperativ“. „Ein kooperativer Führunggsstil ist ein kluger Führungsstil“, sagt der Sozialdemokrat auch mit Verweis auf moderne Führungsstile in Unternehmen und Konzernen.
In den Mittelpunkt der von Klingbeil geforderten Debatte stellt der Sozialdemokrat selber an diesem Dienstag vor allem die Sicherheitspolitik. Die ist aus seiner Sicht auch wesentlich mehr als eine Debatte über die Ausstattung der Bundeswehr und das Sondervermögen. „Wir erleben gerade, was für enorme Kosten eine instabile internationale Ordnung, Krieg und unterbrochene Lieferketten für das Leben bei uns haben“, erklärt Klingbeil diese Perspektive, er sieht enorme Sprengkraft für die Gesellschaft auch vor Ort.
Allerdings: Als Sohn eines Soldaten und Verteidigungspolitiker wünscht sich Klingbeil auch eine neue Akzeptanz der Bundeswehr in der Gesellschaft. „Friedenspolitik bedeutet für mich, auch militärische Gewalt als Mittel der Politik zu sehen.“ Für ihn ist klar – erst Recht nach dem Überfall Putins auf die Ukraine: „Nicht das Reden über Krieg führt zum Krieg. Das Verschließen der Augen vor der Realität führt zum Krieg.“
Diese Sichtweise sieht Klingbeil außerdem im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen und zwei SPD-Vordenkern: Willy Brandt und Helmut Schmidt: „Brandt und Schmidt haben verstanden, dass man nur aus eigener Stärke heraus für Frieden und Menschenrechte eintreten kann.“