Klima des Terrors in der Türkei
Als am Samstag die über eine Woche andauernde Ausgangssperre in der überwiegend kurdischen Stadt Cizre im Osten der Türkei aufgehoben wurden, bot sich ein Bild der Verwüstung, das erschreckend an Syrien erinnerte: zerstörte Häuser, abgebrannte Autos, Wohnungen, die in Lazarette verwandelt wurden. In der als Hochburg der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK geltenden Stadt lieferten sich kurdische Rebellen und türkische Sicherheitskräfte tagelange Gefechte. Die kurdennahe Partei HDP erhebt dabei schwere Vorwürfe gegen die Regierung: 21 Zivilisten sollen von Sicherheitskräften getötet worden sein, darunter Kinder. Verletzte konnten nicht ins Krankenhaus gebracht, Tote nicht begraben werden. Die Bevölkerung war während der Ausgangssperre von der Öffentlichkeit abgeschnitten – keine Elektrik, kein Telefon, keine Internetverbindung. Die Wahrheit zu finden ist in diesen Tagen schwer in der Türkei.
Türken gegen Kurden
Es herrscht ein Kampf der Bilder. Seit die PKK und der türkische Staat Ende Juli ihren seit 2013 herrschenden Waffenstillstand aufgekündigt haben, zeigen türkische Nachrichtenprogramme pausenlos Beerdigungen von Soldaten und Polizisten, die Attacken der PKK zum Opfer fielen. Allein am heutigen Mittwoch starben fünf Polizisten in Mardin und Hakkari im Südosten des Landes. Die Bedrohung durch den Islamischen Staat und der neu aufgenommene Kampf Ankaras gegen die Terrormiliz wird dagegen nur am Rande erwähnt. Viel mehr wird mit Bildern von Militärattacken gegen Stellungen der PKK Stärke gegen den Feind im eigenen Lande demonstriert.
Doch der Bevölkerung wird nur ein Teil der Wahrheit präsentiert, erklärt der Politologe und Experte der Kurdenfrage Murat Somer von der Koç Universität Istanbul: „Die Menschenrechtsverletzungen türkischer Sicherheitskräfte an Kurden im Südosten des Landes werden in den gängigen Fernsehsendern und Zeitungen nicht thematisiert. Die meisten Türken wissen nicht, was in den Kurdengebieten wirklich vor sich geht. Weil die Menschen nur die Opfer der PKK-Attacken sehen, wächst verständlicherweise ihre Wut.“
HDP ist Hauptfeind Erdoğans
Diese Wut wird an der kurdischen Bevölkerung ausgelassen. Nationalismus hat wieder Hochkonjunktur in der Türkei: in der letzten Woche attackierten Nationalisten zahlreiche Büros der kurdennahen HDP im ganzen Land, setzten kurdische Geschäfte in Brand. Ein 21-järiger Kurde wurde letzten Montag durch eine Messerattacke getötet, weil er an einer Bushaltestelle Kurdisch in sein Handy sprach. Die Türkei scheint plötzlich in die blutigen 90er Jahre zurückgefallen zu sein, als es gefährlich war, seine kurdische Identität zu zeigen – Zeiten, die man glaubte, längst hinter sich gelassen zu haben.
Dass der Konflikt wieder aufflammt, hängt paradoxerweise mit dem Aufschwung der Kurdenbewegung zusammen. Bei den Wahlen am 7. Juni schaffte die kurdennahe HDP den Einzug ins Parlament und verhinderte, dass die bisherige Regierungspartei AKP wie in den vergangenen 13 Jahren allein regieren konnte. Und dadurch konnte Präsident Recep Tayyip Erdoğan nicht wie erträumt per Verfassungsänderung ein autoritäres Präsidialsystem einführen, das alle Macht im Staate auf seine Person bündelt. Die HDP ist damit zum Hauptfeind Erdoğans und der AKP geworden.
Die Koalitionsverhandlungen der AKP scheiterten wie erwartet, Erdoğan rief Neuwahlen aus – nun scheint er alles in seiner Macht stehende zu tun, um bei den Neuwahlen am 1. November einen erneuten Einzug der HDP ins Parlament zu verhindern. Regierungsgegner vermuten gar, dass Erdoğan den urplötzlich wieder aufgeflammten Konflikt zwischen PKK und türkischem Staat selber initiiert hat – um die HDP in der Nähe zum Terrorismus zu rücken und in Zeiten von Instabilität den Wunsch nach einer starken AKP-Regierung zu nähren. Zumindest tut er nichts, um den Konflikt zu lösen oder zumindest zu beschwichtigen. Ganz im Gegenteil übt er sich in nationalistischer Rhetorik, beschwört einen Kampf bis zum Ende. Ein drastischer Kurswechsel, schließlich hatte er selbst vor ein paar Jahren den Friedensprozess mit der PKK initiiert.
Klima des Terrors
Viel Erfolg scheint er mit der neuen Strategie allerdings noch nicht zu haben: aktuellen Umfragen zufolge erwartet man am 1. November ein ähnliches Wahlergebnis wie am 7. Juni, weder hat die AKP deutlich an Stimmen zugelegt, noch schwebt die HDP in Gefahr, die 10 Prozent Hürde zu nehmen. Noch nicht.
Denn auch die PKK hat die HDP in die Klemme genommen. Ihre steigernde Gewalt macht es der HDP immer schwerer, sich als friedensnahe und pluralistische Alternative für die ganze Türkei zu präsentieren. Zwar ruft die HDP permanent beide Seiten zum sofortigen Waffenstillstand aus, doch viele im Land fordern, dass sie sich deutlicher von der PKK distanziert. Was der HDP wiederum schwer fallen dürfte, haben beide Bewegungen doch die gleichen Wurzeln.
Wie schon so oft in der Türkei ist das herrschende Klima des Terrors nützlich, um kritische Stimmen zu unterbinden. So hat die Staatsanwaltschaft am Dienstag Ermittlungen gegen die regierungskritische Doğan-Mediengruppe aufgenommen, zu ihr gehören populäre Zeitungen wie Hürriyet oder der Fernsehkanal CNN Türk. Ihr wird vorgeworfen, Propaganda für eine Terrororganisation betrieben zu haben. Dahinter vermuten Experten eine weitere Wahlkampf-Strategie Erdoğans: CNN Türk ist einer der wenigen großen TV-Sender in der ohnehin stark zensierten türkischen Medienlandschaft, der noch Reden des moderaten und sehr beliebten Co-Vorsitzenden der HDP Selahattin Demirtaş ausstrahlte. Die stärkste Waffe der HDP soll so im Wahlkampf zum Schweigen gebracht werden.
arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.