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Klima der Angst - so sieht der Ausnahmezustand in der Türkei aus

30 Tage ohne Anklage in Haft, Namenslisten im Internet – nach dem gescheiterten Putschversuch rollt eine Verhaftungs- und Entlassungswelle über die Türkei hinweg, die Regierung hat den Ausnahmezustand ausgerufen. Beobachter warnen vor unrechtmäßigen Methoden; Oppositionelle fürchten, als nächstes zur Zielscheibe zu werden.
von Kristina Karasu · 29. Juli 2016
Nach dem Ausmahmezustand in der Türkei warnen Beobachter vor maßlosen und unrechtmäßigen Methoden.
Nach dem Ausmahmezustand in der Türkei warnen Beobachter vor maßlosen und unrechtmäßigen Methoden.

Es sind schier unbegreifbare Zahlen und sie steigen täglich. Seit dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli wurden in der Türkei 66.000 Staatsbedienstete entlassen, darunter Lehrer, Richter, Staatsanwälte, Diplomaten und Polizisten. Tausende wurden festgenommen, darunter mutmaßliche Putschisten aus der Armee, aber auch Journalisten, Anwälte, Geschäftsleute. Die oberste Staatsanwaltschaft forderte nun gar die Beschlagnahmung des Eigentums von über 3000 Juristen, die bereits suspendiert wurden. Hunderte Schulen, Universitäten und Vereine, gar duzende Krankenhäuser und über 132 Medien wurden geschlossen. Sie alle sollen zur Gemeinde des in den USA lebenden islamischen Predigers Fethullah Gülen gehören, die von der Regierung für den Putschversuch verantwortlich gemacht wird.

Auf einmal gefährlich: Die Gülen-Bewegung

Wenn man sich umhört in der Türkei, dann scheinen die meisten der Festgenommenen, etwa aus dem Justizsystem, tatsächlich als Gülen-Anhänger bekannt gewesen sein. Dass sie aber alle in den Putschversuch verwickelt sein sollen, ist kaum vorstellbar – und wirft ein schales Licht auf die immer ausufernden  Operationen.

Die Gülen-Bewegung selber ist schwer greifbar. Seit den 1980er Jahren hat sie sich systematisch in der Türkei und dann weltweit ausgebreitet. Zunächst vor allem mit Schulen, in denen begabte Kinder mittelloser Eltern eine gute, kostenlose Ausbildung erhielten und dabei, ähnlich wie in einer Sekte, mit den Gedankengut der Gemeinde infiltriert wurden. Woraus dieses Gedankengut besteht, auch darüber gibt es wenig gesicherte Informationen. Nach außen hin präsentiert sich die Bewegung als Vertreter eines liberalen Islams. Doch ihr wahres Anliegen sei, zunächst den türkischen Staat zu unterwandern, insbesondere Polizei und Justiz, um anschließend die Macht im Land zu übernehmen, warnen Kritiker wie etwa der Journalist Ahmet Şik schon seit Jahren. Doch sie blieben lange ungehört, Şik wanderte für sein Buchmanuskript über die Gülen-Bewegung 2011 gar ins Gefängnis.

Denn lange Zeit waren Gülen und AKP-Regierung enge Verbündete, bis es 2013 zum Bruch kam: „Sie profitierten gegenseitig vom Segen der Macht. Sie haben gemeinsam ihren Reichtum begründet. Die Renditen der großen Städte haben sie Parzelle um Parzelle, die Staatsverträge Projekt um Projekt untereinander aufgeteilt“ erklärt Kolumnist Necati Doğru der kemalistischen Tageszeitung Sözcü. „Anschließend fielen sie übereinander her. Warum? Um alleine an der Macht zu sein.“

Listen im Internet schüren Klima der Angst

Diesen Machtkampf scheinen nun Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan und die AKP-Regierung gewonnen zu haben. Der verteidigt die gnadenlosen Säuberungsaktionen, und viele Türken sind auf seiner Seite. Denn selbst viele, die Erdoğan nicht mögen, fürchten sich noch mehr vor einer islamistischen Putsch-Herrschaft der Gülen-Bewegung.

So kritisieren nur noch wenige öffentlich das Vorgehen der Regierung; zum Teil auch aus Angst, damit selber als Putsch-Unterstützer zu gelten. Schließlich kursieren im Internet täglich neue Listen mit mutmaßlichen Verdächtigen; manches bleibt ein Gerücht, manche Personen werden kurze Zeit später tatsächlich festgenommen. Es herrscht ein Klima der Angst, der Ungewissheit.

Die Demokratie hat gesiegt!" erklären dagegen viele Bürger und heißen auch den 3-monatigen Ausnahmezustand gut, den die Regierung vergangene Woche verhängt hat. Dabei birgt der das Risiko, den Rechtsstaat auszuhebeln. Die Regierung kann damit beispielsweise ohne Zustimmung des Parlaments Gesetze erlassen. Wer den autoritären Kurs Erdoğans der letzten Jahre kennt, hat Anlass zu fürchten, dass der Präsident die Situation als Chance nutzen wird, die Macht im Land weiter zu zentralisieren.

Ausnahmezustand: Bis zu 30 Tage Haft ohne Anklage

Zudem erlaubt der Ausnahmezustand, Verdächtige ohne Anklage bis zu 30 Tage in Haft zu halten. Was das bedeuten kann, erlebte etwa der bekannte Menschenrechtsanwalt Orhan Kemal Cengiz. Er wurde vergangenen Donnerstag ohne Nennung von Gründen am Istanbuler Atatürk-Flughafen festgenommen, vier Tage lang hielt man ihn in Untersuchungshaft. Sein Anwalt durfte kaum mit ihm sprechen, weder seine Akte einsehen noch den Staatsanwalt sprechen - eigentlich fundamentale Rechte. Doch im Ausnahmezustand scheint alles erlaubt.

Cengiz vertrat den Fall der im März verstaatlichten Gülen-nahen Zeitung Zaman vor dem Verfassungsgericht, bestreitet aber jegliche Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung. Der Staatsanwalt warf ihm nun Mitgliedschaft in einer Terrororganisation vor, als Beweis dienen ein paar Twitter-Nachrichten von 2014. Cengiz, nun wieder in Freiheit, lacht müde, so absurd findet er den Vorwurf.

In der Haft sei er gut behandelt worden, doch einige Soldaten, mit denen er die Zelle teilte, seien mit geschwollenen Gesichtern aus der Vernehmung gekommen: „Einer war wohl so geprügelt worden, dass er seine Augen nicht mehr öffnen konnte. Ein anderer weinte." Für den Menschenrechtsanwalt alarmierende Zustände: „Natürlich müssen die Putschisten zur Rechenschaft gezogen werden. Doch das darf für Regierung und Staatsanwaltschaft kein Freibrief sein, Menschenrechtler, Anwälte und Journalisten festzunehmen. Und es rechtfertigt niemals die Misshandlung oder Folter von Inhaftierten", so Cengiz.

Politische Aussöhnung möglich?

Das hat mittlerweile auch ein Teil der Opposition erkannt. „Der Kampf gegen die Putschisten darf nicht zu einer Hexenjagd ausarten" warnte der Führer der sozialdemokratischen CHP, Kemal Kemal Kılıçdaroğlu in dieser Woche und mahnte zu Rechtsstaatlichkeit. Er hatte sich bisher, ähnlich wie die anderen Oppositionsparteien, mit Kritik zurückgehalten und den Schulterschluss mit der Regierung gesucht. Dafür wurde er belohnt. Am Sonntag hielt die CHP eine Kundgebung gegen den Putschversuch vor hunderttausend Anhängern auf dem Istanbuler Taksim-Platz ab.

Für viele ein positives Signal – schließlich waren solche Kundgebungen seit den Gezi-Protesten meist verboten. Am Montag trafen er und der Führer der ultrarechten MHP, Devlet Bahçeli dann Präsident Erdoğan in seinem Palast – die kurdennahe HDP war hingegen nicht geladen. Kılıçdaroğlu lobte die Stimmung der politischen Aussöhnung. Er scheint wie viele Säkulare erleichtert, diesmal nicht die Zielscheibe der Regierung zu sein. Wie lange noch, das hingegen ist ungewiss.

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Kristina Karasu

arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.

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